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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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das Gleichgewicht zu behalten. Wenn sie sich auf die Zehe n spitzen stellte und ihren ganzen Körper streckte, würde sie um Haaresbreite über den Rand der Öffnung hinwegschauen können. Damit aber würde auch sie selbst zu sehen sein, und sie war nicht sicher, ob sie dieses Wagnis eingehen wollte. Vielleicht sollte sie einfach wieder hinabklettern und warten, bis die Leute dort oben verschwunden waren.
    Was aber, wenn sie blieben? Oder gar das Gitter wi e der über die Öffnung zogen? Ailis wusste ja nicht einmal, wer diese Menschen waren, geschweige denn, was sie vorhatten. Nur dass eine Gefahr von ihnen ausging, daran zweifelte sie nicht im g e ringsten.
    Sie hatte keine Wahl. Sie bückte sich und zog den Stein – ein blutroter Rubin, wie sie jetzt sah – aus ihrem Stiefel. Eine armselige Geste, sicher, aber sie hatte nichts anderes dabei, das ihr als Waffe hätte dienen können. Zugegeben, der Stein war ein ungewöhnliches Wurfg e schoss, aber er war hart wie Stahl und seine Kanten scharf geschliffen.
    Vorsichtig streckte sie sich, stützte sich dabei mit einer Hand an der Felswand ab. Ihr verkrampftes Bein schien zu beben, doch als sie an sich hinabsah, stand es völlig sicher und reglos da. Nun ließen sie also auch noch ihre Empfindungen im Stich!
    Zaghaft spähte Ailis über den Rand.
    Der Himmel war noch grauer geworden. Jenseits der Wolkendecke näherte sich die Sonne den Bergkämmen, der Abend brach an. Krähen kreisten über dem Lurli n berg. Aus dem Tal ertönte das Tosen der Stromschnellen.
    Im Dämmerlicht erkannte sie acht Gestalten, die schweigend einen weiten Ring um den Schacht bildeten. Sie trugen bodenlange Kapuzenmäntel aus dunklem Stoff. Die Ränder der Kapuzen waren ausladend und warfen pechschwarze Schatten über die Gesichter der Männer; nur ihre Kinnpartien stachen hell hervor und wirkten auf den ersten Blick weiß wie Knochenschädel.
    Keiner machte die geringste Bewegung. Allein die Mäntel flatterten sachte im Wind, ihre Säume wellten sich wie Schlangen über dem Felsboden.
    Alle acht hatten ihre Gesichter dem Schacht zug e wandt. Alle acht schauten Ailis an.
    Einige Herzschläge lang war sie vor Panik wie g e lähmt. Stumm vor Entsetzen u n terdrückte sie den Drang, zurück in die Tiefe zu springen, wieder hinab in den Berg, wo die Männer sie nicht erreichen konnten.
    Dann aber, als ihr Blick sich an das Dämmerlicht g e wöhnte, sah sie, dass die unheimlichen Gestalten ihre A u gen geschlossen hatten. Noch hatten sie Ailis gar nicht b e merkt!
    Die Lippen der Männer bewegten sich langsam, mu r melten etwas, eine stille Lit a nei, und jetzt erkannte Ailis im Säuseln des Windes noch ein anderes Geräusch: leises Flüstern aus menschlichen Kehlen, nahezu unhörbar. Nun, da sie erst einmal darauf aufmerksam geworden war, schien es aus allen Richtungen zugleich zu kommen, leise und schneidend. Angst einflößend.
    Ailis bewegte sich, ohne nachzudenken. Sie hob beide Arme, legte den Rubin auf den Felsrand und zog sich lautlos aus dem Schacht.
    Ich kann es schaffen!, hämmerte sie sich wieder und wieder ein. Muss nur leise sein! Kein Geräusch!
    Die acht Gestalten beteten weiter, ohne die Augen zu öffnen. Ailis sah, wie sich ihre Kutten über den Brus t körben hoben und senkten. Menschen, immerhin. Keine G e spenster.
    Naddred.
    Das Wort allein erfüllte sie mit abgrundtiefem Schr e cken, und sie nun vor sich zu sehen, von krankhafter Enthaltsamkeit knöchern geworden und mit einer Haut so weiß wie jene der Kreaturen, über die sie im Schacht fa n tasiert hatte, beraubte Ailis fast ihrer Sinne.
    Mit eckigen Bewegungen stellte sie sich am Schach t rand auf die Füße, packte im Aufstehen den Rubin und schob sich vorwärts. Kein Geräusch! Kein Laut! Atemlos näherte sie sich der nächstbesten Lücke im Ring der Dr u iden.
    Die geisterhaften Gestalten standen etwa vier Schritte vom Schacht entfernt, zw i schen ihnen klafften Schneisen von einer Mannslänge Breite. Ihre Lippen flüsterten u n ablässig, ihre Lider blieben geschlossen. Das Gebet schien sie in eine Art Wachschlaf zu versetzen. Ailis ha t te von Mönchen gehört, die während der Andacht in so l che Zustände verfielen, hatte es aber nie mit eigenen A u gen mit angesehen. Sie wünschte sehnlichst, die Erfa h rung wäre ihr erspart geblieben.
    Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, u m klammerte dabei den Rubin wie einen Glücksbringer. Sie sah jetzt, dass einer der beiden Druiden, zwischen denen sie dem Ring

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