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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Füßen in die Stille des Berges tauchte, stellte sie sich noch einmal Eberhart vor, wie er am vergangenen Abend an dieser Stelle gestanden und gehofft hatte, ein Ede l stein könne die Dinge ungesch e hen machen; wie er den Stein in die Tiefe geworfen hatte, in der Hoffnung, Tit a nia würde das Juwel als Opfer akzeptieren. Hatte er g e weint? Oder waren seine Züge schon da so ausdruckslos gewesen wie heute in seiner Kammer?
    Aber Ailis hatte jetzt keine Zeit mehr, sich Gedanken über ihn oder seine Bewe g gründe zu machen. Was ihr bevorstand, erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit. Falls sie abrutschte, würde sie sich alle Knochen brechen. Und niemand war da, der sie wieder heraufzog. Man würde annehmen, sie sei fortgelaufen, während sie in Wahrheit hier oben im Fels verrottete.
    Schluss damit! Auf diese Weise fand sie gewiss nicht den Mut, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Da unten, so sagte sie sich, lag Faerie – und mit ihm seine Herrsch e rin. Und wenn der Stein Titania nicht überzeugen konnte, dann musste Ailis eben selbst mit ihr reden.
    Noch vor ein paar Tagen hätte sie sich selbst für ve r rückt erklärt, über so etwas auch nur nachzudenken. Aber sie hatte seither einiges dazugelernt. Wo Echos waren, die sprachen und töteten, da mochte es auch Feenkön i ginnen und sagenhafte Länder jenseits des Regenbogens geben.
    Der Abstieg fiel anfangs leichter als sie erwartet hatte. Zwar war der Fels vom Ni e selregen der vergangenen Tage feucht und rutschig, doch die Vorsprünge und Spa l ten waren so stark ausgeprägt, dass kaum Gefahr bestand, den Halt zu verlieren.
    Ailis hatte nie darüber nachgedacht, ob Gestein einen eigenen Geruch besaß, aber jetzt nahm sie ihn ganz deu t lich wahr. Es roch nach nasser Erde, nach Wurzelwerk und getrocknetem Torf. Das Licht wurde mit jeder Mannslänge, die sie nach unten stieg, schwächer, bald würde sie sich nur noch durch Tasten weiterbewegen können.
    Auf manchen Steinkanten klebte ein dünner, fettiger Film, der an ihren Fingerspi t zen nach Asche roch. Waren das die Überreste des Mädchens, das vor ihren Augen zu Staub zerfallen war? Sie weigerte sich, allzu lange über diese Möglichkeit nachzudenken. Immerhin fand sie ke i ne Knochensplitter oder Haarsträhnen.
    Manchmal schien es ihr, als wehte ihr von unten ein kalter Luftzug entgegen. Gab es Winde im Inneren der Erde? Und lebten hier unten vielleicht noch andere W e sen, weitere Wächter, die das Feenreich vor Eindringli n gen schützten? Zwei- oder dreimal glaubte sie Geräusche zu hören, tief, tief unter sich, doch sie beruhigte sich, dass sie vom Wasser stammen mussten, das an den Fel s wänden herablief. Auch die sonderbaren Laute, die wie heiseres Atmen klangen, ließen sich auf diese Weise e r klären. Gewiss wurden sie von den unterirdischen Luf t strömen verursacht, ähnlich wie das Flüstern des Windes in den Giebeln der Burg.
    Je finsterer es wurde, desto enger erschien ihr der Schacht. Sie hatte vergeblich g e hofft, dass ihr aus der Tiefe Licht entgegenscheinen würde. Doch nichts deutete darauf hin, dass dort unten mehr war als feuchtes, kaltes Gestein.
    Die Dunkelheit wurde undurchdringlich. Auch das graue Rund des Himmels über ihr war verschwunden. Ihr Gehirn spielte ihr Streiche, gaukelte ihr Bilder von W e sen im Schatten vor, augenlose, molchartige Kreaturen mit knochenfarbener Haut, die noch nie vom Licht des Tages berührt worden waren. Aber wohin sie auch mit ihren Händen fasste, immer stieß sie nur auf blanken Fels. Es gab keine Höhlen, keine Quergänge oder Spalten ohne Rückwand. Nur den schmalen, schier endlosen Schacht, dem sie tiefer und tiefer in die Schwärze folgte.
    Sie verlor jegliches Gefühl für die Entfernung zur Oberfläche. Waren es fünf Mannslängen oder fünfzehn? Sie wusste es nicht. Mittlerweile waren die Wände so eng zueinander gerückt, dass sie immer wieder mit dem R ü cken anstieß. Einen Moment lang überkam sie Panik. Was, wenn sie hier unten stecken blieb, sich weder vor noch zurück bewegen konnte? Plötzlich zitterte sie am ganzen Körper und spürte einen scharfen Schmerz in der Brust. Doch der furchtbare Augenblick verging.
    Wenn sie sich zusammenriss, vielleicht an etwas and e res dachte, mochte es ihr gelingen, ihre Angst zu unte r drücken. Nur für wie lange? Gleichgültig. Sie musste sich beherrschen. Durfte jetzt ihren Ängsten nicht nac h geben. Musste weitermachen, tiefer nach unten klettern, immer tiefer, tiefer, tiefer.
    Und dann

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