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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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war. Doch auch dagegen war sie jetzt machtlos. Was sie getan hatte, ließ sich nicht ungeschehen machen.
    Sie sah zu, wie die Männer durchs Tor marschierten und ein paar Worte mit den Wachhabenden wechselten. Der Bef ehlshaber des kleinen Trupps machte sich auf den Weg zum Haupthaus, um dem Grafen Bericht zu ersta t ten, die übrigen zogen sich in ihre Quartiere zurück. Ailis hörte, wie jemand ihren Namen erwähnte, gefolgt von hämischem Gelächter. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, dass sie von hier fortging.
    Kaum hatte sie diesen Gedanken gefasst, als sie etwas hörte. Eine leise, säuselnde Melodie drang durch die Nacht, schien an der Burgmauer emporzuschweben und sich um Ailis’ Gehör zu legen wie eine federleichte, streichelnde Hand. Erschrocken schaute sie noch einmal zum Tor, doch die Männer dort unten schienen nichts zu bemerken.
    Ihr erster Gedanke war, dass das Echo zurückgekehrt war. Doch die Melodie, die sie hörte, war kein Gesang. Vielleicht eine List der Naddred, um sie hinaus ins Du n kel zu locken? Das war durchaus denkbar, und sie scha u derte, als das Bild der Druiden aus ihrer Erinnerung trat und beinahe greifbar vor ihr stand – acht Männer in fla t ternden schwarzen Gewändern, stumm und abwartend, mit leichenhaft weißen Gesichtern in den Schatten ihrer Kapuzen.
    Aber die Naddred konnten nichts von ihrer Hellhöri g keit wissen. Hätten sie Ailis wirklich locken wollen, hä t ten sie es gewiss auf andere Weise versucht.
    Die Melodie klang sanft und traurig, wurde aber i m mer wieder von kurzen, ausgelassenen Passagen unte r brochen. Und da bemerkte Ailis, dass unter der ersten Musik eine zweite Tonfolge lag, die an manchen Stellen an die Oberfläche brach, dann wieder untertauchte und nur für den hörbar blieb, der ihr Geheimnis kannte.
    Jetzt, da Ailis einmal darauf gestoßen war, vernahm sie die Melodie deutlicher, und sie spürte, dass sie nach ihr rief. Sie schien ihren Namen zu summen, nicht aus Silben geformt, s ondern allein aus Musik, wie ein Wort, das trotz verschiedener Sprachen dasselbe meint. Es war ihr Name, dessen war sie jetzt ganz sicher, aber er lautete nicht mehr Ailis, sondern setzte sich aus Bruchstücken der Melodie zusammen, die sich mit menschlichen Li p pen nicht nachahmen ließen.
    Das Instrument, auf dem die Musik gespielt wurde, war eine Sackpfeife, und Ailis kannte nur einen Me n schen, der damit umgehen konnte.
    Sie zog ihren Überwurf enger um ihre Schultern, dann lief sie aufgeregt die Stufen vom Wehrgang hinunter in den Hof, eilte hinüber zur Schmiede.
    Erland starrte grübelnd auf einen grob behauenen Dolch, aber sie sah ihm an, dass es nicht die Klinge war, die ihm Kopfzerbrechen bereitete. Er blickte auf und sah, wie sie das Schwert, das sie geschmiedet hatte, von der Wand nahm.
    »Du gehst fort«, stellte er leise fest. Er wirkte nicht überrascht.
    »Ich will nur noch einmal hinaus in den Wald«, erw i derte sie und trat neben ihn.
    »Du wirst fortgehen, ich weiß es.«
    »Glaubst du, ich habe eine andere Wahl?«
    »Der Graf ist zornig. Er wird dich zur Rede stellen. Vielleicht, wenn du eine Weile verschwindest – «
    »Ich habe keine Angst mehr vor ihm«, unterbrach sie ihn wahrheitsgemäß. »Wenn er noch einmal mit mir r e den will, gut, dann soll er es tun. Aber er hat selbst g e sagt, dass er vorerst anderes im Kopf hat. Wann soll Fees Vater bestattet werden?«
    »Morgen. Aber dann wirst du schon fort sein.«
    Sie lächelte. »Erland, ich will wirklich nur in den Wald. Und ich bin alt genug, um ein Schwert zu tragen.«
    »Es ist deines, du hast es geschmiedet. Aber gib auf die Klinge acht, sie könnte leicht zerbrechen. Willst du nicht lieber ein anderes? Such dir eines aus, wenn du magst.«
    Ihr Blick wanderte über die zahllosen Waffen, die an den Wänden lehnten, doch dann sagte sie: »Ich danke dir, Erland. Aber ich glaube, ich sollte mein eigenes Schwert tragen. Es wird zu würdigen wissen, dass ich es war, die es geschmiedet hat.«
    »Du redest, als hättest du einmal zu oft nach einer Schlacht bei den Kriegern am Lagerfeuer gesessen. Ich habe diesen Unsinn von der Seele einer Waffe nie ve r standen. Wunschdenken, nichts sonst. Und ich sollte es wissen!«
    Ihr Lächeln wurde noch breiter, doch mit einem Ohr horchte sie immer noch auf die Melodie, die sogar durch die Mauern der Burg drang. »Wenn die Klinge zerbricht, werde ich jedem erzählen, wer mein Lehrherr war.«
    »Solltest du dann noch zurückkommen, wirst du dein Leben

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