Loreley
müde ausgesehen, heut morgen«, sagte er. »Du bist doch nicht krank?«
Sie verneinte geschwind, damit er sie nicht in ihre Kammer schickte und sie mit i h ren Sorgen allein ließ. »Ich habe nur schlecht geschlafen.«
Erland nickte, als wüsste er genau, was vorgefallen war. »Die verdammten Katzen! Sie haben die ganze Nacht herumgeschrien und sich auf dem Hof gebalgt. Ich habe eigenhändig zwei aus dem Tor befördert und den Wachen gesagt, wenn sie sie nochmal hineinlassen, schlage ich ihnen den Schädel ein.«
»Den Katzen?«
»Den Wachen!« Er lachte, ein tiefer, brummiger Laut, der Gemütlichkeit verhieß.
Ailis lächelte verhalten. Sie wusste, dass Erland Ka t zen gern hatte. Vor allem, weil sie nicht herumkläfften wie Hunde und ihren eigenen Kopf besaßen. Dass ausg e rechnet eine Katze seinen Schlaf gestört hatte, musste ihn schwer getroffen haben.
Sie hatte den ganzen Tag lang überlegt, wie sie das Gespräch am geschicktesten in jene Richtung lenken konnte, die ihr auf dem Herzen lag. Jetzt aber verwarf sie all ihre vorgefertigten Reden und sagte einfach: »Ich war gestern auf dem Lurlinberg.«
Erland hob eine Braue, ließ sich ansonsten aber nichts anmerken. »Und?«, fragte er und setzte den Messbecher ab.
Ailis’ Blick geisterte durch die Werkstatt und blieb schließlich an dem zerfetzten Gitter über der Tür hängen. Es war viel feiner gearbeitet als jenes, das ihm nachg e folgt war, auch fehlten die mörderischen Stacheln. Wer immer es entworfen hatte, er hatte nach dem Ausbruch des Mädchens vor einem Jahr dazugelernt. Ailis hatte immer noch Mühe, sich vorzustellen, dass die Kleine die stählernen Streben mit ihren winzigen Händen zerrissen und auseinander gebogen haben sollte. Wenn aber nicht sie selbst es gewesen war, bedeutete das, dass sie Hilfe von außen gehabt hatte, von jemandem, der noch ganz in der Nähe gewesen war, als das Mädchen abermals eing e fangen und eingesperrt worden war. Doch wenn es di e sen Jemand wirklich gab, hätte er ihm dann nicht auch gegen die Männer des Grafen beigestanden? Wie so vi e les widersprach auch das jeder Vernunft.
Als Erland bemerkte, dass Ailis zum Gitter aufschaute und mit ihrer Antwort zöge r te, fragte er betont fröhlich: »Warst du oben in den Ruinen? Ein ganz schön wildes Stück Land. Es gab mal einen Bauern, der beim Grafen um ein Lehen auf dem Lurlinberg gebeten hat. Graf Wi l helm bot ihm an, zuerst eine Nacht dort oben zu verbri n gen, ganz allein. Falls er am nächsten Morgen unbesch a det herunterkommen und immer noch Gefallen an dem Berg haben sollte, wollte der Graf ihm einen Teil der Abgaben erlassen. Und weißt du was? Der Bauer klette r te guter Dinge hinauf, die Nacht kam – und er wurde niemals wieder gesehen. Soldaten fanden seine Decken und seine Feuerstelle, doch der Mann selbst blieb ve r schwunden. Es heißt, er sei von dort oben in den Fluss gesprungen, als ihm die Geister des Berges um Mitte r nacht einen Besuch abstatt e ten.« Der Schmied grölte vor Lachen und schenkte sich Met nach. »Weißt du, man e r zählt sich viel über diese Gegend, aber – «
»Erland«, unterbrach Ailis ihn ernst, »ich habe den Brunnen gesehen. Und das Gi t ter. Und das, was es dort oben festhält.«
Der Schmied setzte seinen Becher ab. Aller Frohsinn war auf einen Schlag aus se i ner Miene gewichen, und doch wirkte er nicht zornig. Er nahm Ailis rechte Hand in seine Pranken und hielt sie fest. »Du hast doch nicht etwa Stimmen gehört?«
Sie blickte in seine traurigen Augen und beschloss, aufrichtig zu sein. »Ich habe e i ne Stimme gehört. Und ich habe jemanden gesehen, unten im Brunnen.«
»Die Stimme kam aus dem Brunnen?«
»Erland, sei bitte ehrlich zu mir und mach dich nicht über mich lustig.«
»Ich kann dir sagen, was du gehört hast«, entgegnete er, ohne auf ihre letzten Worte einzugehen. »Es war das Echo, und zwar das deiner eigenen Stimme. Du hast in den Brunnen hineingesprochen und der Schacht hat es zurückgeworfen. Es gibt weit und breit kein Echo wie das auf dem Lurlinberg.
Wenn du von dort oben ins Tal hinab rufst, hallen de i ne Worte über ein Dutzend Mal von den Bergen wider. Glaub mir, was du gehört hast, ist nicht weiter ung e wöhnlich.«
Obwohl auch der Lange Jammrich sie vor dem Echo des Lurlinberges gewarnt hatte, schüttelte Ailis niederg e schlagen den Kopf. »Das ist lächerlich, und das weißt du. Ich habe das kleine Mädchen im Brunnen gesehen, ei n gesperrt hinter dem Gitter, das du
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