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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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entdeckte, denn er trat jetzt ins Freie, rief irgendetwas Unverständliches und ve r schwand aus ihrem Blickfeld.
    Ailis vergaß den Schlüssel, ließ ihn liegen. Vergaß das Mädchen im Brunnen und sogar das Ziehen und Stechen hinter ihren Augen. Und beinahe hätte sie sogar verge s sen, den Deckel der Schachtel zu schließen. Im letzten Moment fiel er ihr wieder ein, sie klappte ihn zu und ließ sich von dem Balken auf einen anderen herab, kletterte blitzschnell daran entlang zur Wand und sprang in die Tiefe. Diesmal nutzte sie nicht den Tisch, um die Höhe zu verkürzen. Sie hatte viel zu viel Angst, das Poltern des wackligen Möbelstücks könnte Erland alarmieren. G e schwind schlich sie zur Tür, die jetzt weit geöffnet war. Sie schaute hinaus auf den Burghof, konnte niemanden erke n nen. Auch Erland war nirgends zu sehen, was ihre Furcht noch steigerte. Stand er im Schatten der Linde und wartete, bis sie herauskam? Lauerte er ihr im dunklen Eingang des Weiberhauses auf? Würde sie von hinten eine Hand packen, wenn sie ins Freie trat, aus irgende i nem Winkel, den sie von hier aus nicht einsehen konnte?
    Alles Zaudern und Zögern half ihr nicht weiter. Mit angehaltenem Atem sprang sie hinaus in die Nacht, ha s tete über den Hof, sah im Vorbeilaufen die Wachtposten auße r halb des Burgtors frierend um ein Feuer geschart, sah auch Erland, der bei ihnen stand und eine strampel n de Katze am Packfell hielt. Ailis riss die Tür des Weibe r hauses auf, presste sich in die Sicherheit der Mauern, stand da mit geschlossenen Augen, um Atem ringend, die Knie so weich wie frisch gegerbtes Leder.
    Auch später noch, in ihrer Kammer, brauchte sie la n ge, ehe sie wieder ruhig Luft holen konnte, endlich von der Angst befreit, sich mit jedem Atemzug zu verraten. Das Ziehen in ihrem Schädel war verschwunden, als hä t te das Mädchen vom Lurlinberg eingesehen, dass es he u te Nacht keinen zweiten Versuch geben würde, den Schlüssel an sich zu bringen.
    Es dauerte bis in die frühen Morgenstunden, bis Ailis endlich Schlaf fand, und als bald darauf die Hähne in den Hühnerställen krähten, kam es ihr vor, als hätte man i h ren Körper die Nacht über mit einem Knüppel bearbeitet. Jedes Glied tat ihr weh, ihre Muskeln schmerzten und sie hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Sie kämpfte sich unter ihrer Decke hervor, zog sich an, wusch sich flüc h tig an einer Schüssel im Flur und ging hinüber zur Schmiede, um ihren morgendlichen Dienst anzutreten. Eine bleischwere Gleichgültigkeit hatte sich ihrer b e mächtigt. Falls Erland irgendwelche Spuren entdeckt h a ben sollte, die auf ihren nächtlichen Besuch hinwiesen, nun, dann sollte es eben so sein. Im Augenblick war ihr selbst das egal.
    Der Schmied stand bereits an seiner Esse und hä m merte ein Stück Eisen zum Blatt einer Egge. Mit erhob e nem Hammer schaute er auf, als Ailis eintrat.
    »Guten Morgen«, brummte er. »Ausgeschlafen?«
    »Sicher. Guten Morgen.« Sie behielt ihn bei jeder B e wegung im Blick, sein G e sicht, seine Augen. Sie wartete auf irgendwelche Anzeichen dafür, dass er wusste, was sie getan hatte. Doch Erland wandte sich wieder seinem Feuer und dem glühenden Eisen zu und ließ den Hammer kraftvoll herabsausen. Das helle Scheppern riss Ailis endgültig aus ihrem morgendlichen Halbschlaf.
    Sie machte sich daran, ihre täglichen Pflichten in der Schmiede zu erledigen: Saubermachen, Werkzeuge re i nigen und sortieren, Kohle schaufeln, Brennholz stapeln und das a lte Wasser aus dem Bottich durch frisches vom Burgbrunnen ersetzen. Die ganze Zeit über lag ihr das schlechte Gewissen wie eine klamme Hand im Nacken, und schließlich wurde ihr klar, dass der Tag nicht zu E n de gehen durfte, ohne dass sie mit ’Erland über alles g e sprochen hatte. Nicht, dass es sie allzu sehr drängte, ihren nächtl i chen Besuch einzugestehen – nein, diese Episode würde sie stillschweigend übergehen-, doch sie wollte endlich erfahren, was es mit dem Lurlinberg und dem gefangenen Mädchen auf sich hatte. Dass sie von dem Schlüssel im Dachgebälk wusste, wollte sie nicht erwä h nen.
    Die Gelegenheit kam, als Erland am Nachmittag eine kurze Ruhepause einlegte und Ailis aufforderte, sich zu ihm zu setzen. Er schenkte ihnen beiden einen Becher Met ein und bot ihr aus einem Beutel süßes Backwerk an, mit dem eine der Köchinnen eine Gefälligkeit beglichen hatte. Ailis aß ein Stück von dem Gebäck, wenn auch nur, um Erland nicht zu enttäuschen.
    »Du hast

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