Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
nahm einige Zeit in Anspruch, da immer nur ein Teil der Pferde und ihrer Reiter auf dem Boot Platz fand.
    Ailis war unter den letzten, die das östliche Ufer e r reichten. Während der Überfahrt hatte sie bemerkt, dass Fee zwischen den Vorhängen der Kutsche hervorg e schaut und die Fähre, auf der Ailis sich befand, beobac h tet hatte.
    Sie konnten einfach nicht voneinander lassen, blickten einander hinterher, wenn sie glaubten, die andere würde es nicht bemerken, und verschwendeten viel zu viele G e danken an die Vergangenheit. Ailis war sicher, dass es Fee ebenso erging wie ihr selbst, und sie wusste nicht recht, ob sie das beunruhigen sollte oder nicht.
    Während des Ritts blieb Ailis die meiste Zeit über an der Seite des alten Arnulf, e i nem betagten Knecht, dem der Graf die Aufsicht über die Ställe anvertraut hatte. Arnulf machte anfangs keinen großen Hehl daraus, dass er wenig Wert auf Ailis’ Begleitung legte, verstrickte sie dann aber doch das eine oder andere Mal in kurze G e spräche. Ailis war recht froh darüber; nicht, weil ihr viel an Arnulf und seinen Ansichten lag, sondern weil ihr die Unterhaltung mit ihm immerhin die Zeit vertrieb. Sie war das lange Reiten nicht mehr gewohnt und bald taten ihr das Hinterteil und der Rücken weh. Das G e schwätz des Pferdeknechts lenkte sie zudem von den Vorwürfen ab, die sie sich selbst machte: Sie hatten noch nicht einmal die Kuppen der vorderen Uferberge überquert und schon fühlte sich ihr Körper an wie der einer alten Frau. Fast neidete sie Fee den weichen Sitz in der Kutsche, und di e ser Neid, gegen den sie nichts tun konnte, legte sich wie ein Schatten auf ihr Gemüt. Sie wünschte sich, sie wäre daheim bei Erland gebli e ben, im Schutz der Schmiede und ihrer engen Kammer im Weiberhaus, weder dem schwankenden Pferd noch ihren Gefühlen für Fee derart hilflos ausgeliefert.
    Der Graf hatte sich sogar herabgelassen, ihr eine B e gründung für seine Einladung zu geben: Ailis sollte die Möglichkeit nutzen, um ihre Eltern wiederzusehen, die in den Zelten um Burg Reichenberg lebten. Sie bezweifelte, dass ihre Mutter oder gar ihr Vater diesen Wunsch geä u ßert hatten, und war gespannt, was für Gesichter die be i den machen würden, wenn sie ihr zum ersten Mal seit neun Monden wieder gegenüberstehen wü r den. Ailis selbst spürte nicht einmal einen Hauch von Vorfreude auf das Wiedersehen. Sie befürchtete, dass es nur den traur i gen Höhepunkt einer ganzen Reihe von Missverständni s sen bilden würde.
    Es war geplant gewesen, dass man gegen Mittag die unfertige Burg erreichen wü r de, doch schon während des Vormittags war abzusehen, dass sich die Ankunft verz ö gerte. Der Trupp hatte kaum den Kamm der Uferberge überschritten, als eines der Pferde auf dem abschüssigen Weg ins Rutschen geriet und mehrere andere mit sich zu Boden riss. Keiner der Reiter nahm ernsthaften Schaden, doch zwei Pferde brachen sich die Vorderläufe und e r hielten den Gnadenstreich mit dem Schwert. Wenig sp ä ter ze r brach ein Rad der Kutsche, und nun kam die Reise gar für längere Zeit zum Erliegen, denn es dauerte eine Weile, ehe der Schaden behoben war.
    Die Sonne hatte längst den höchsten Punkt ihrer Bahn überschritten, als plötzlich, eine große Anzahl Männer dem Tross den Weg verstellte.
    »Räuber!«, rief jemand, »Wegelagerer!« ein anderer, doch nachdem alle Schwerter blank gezogen und die Lanzen in Anschlag gebracht worden waren, stellte sich heraus, dass es nur einige Bauern waren, die um ein Wort mit dem Herrn Grafen baten. Jeder sah, wie unwillig der Lehnsherr dem Wunsch des Pöbels nachkam, doch mit der großmütigen Entscheidung, sich dennoch darauf ei n zulassen, verschaffte er sich einigen Respekt.
    Ailis lenkte ihr Pferd näher an die Spitze des Zuges, um mitanhören zu können, was gesprochen wurde. Der Anfang der Unterhaltung ging im Klappern der Hufe u n ter und die Männer hatten bereits eine Weile auf den Gr a fen eingeredet, ehe Ailis verstand, um was es ging.
    »Unsere Familien hungern«, sagte der Wortführer der Bauern, ein kräftiger, hoch gewachsener Mann mit einem Vollbart, der ihm bis zur Brust reichte. Er stützte sich auf einen langen Stock. »Immer mehr Männer und Frauen kehren ihren Dörfern den R ü cken und lassen ihre Blagen zurück. Sie fliehen, Herr Graf, und sie flüchten nicht nur vor dem Hunger, sondern vor Euch und Euren Entsche i dungen.«
    Das waren ehrliche Worte, vielleicht ein wenig zu eh r lich, fand Ailis.

Weitere Kostenlose Bücher