Loreley
Gräfin an, dass sie ihr jede Empfi n dung vom Gesicht ablas. Auf der Stelle drehte sie sich um und brachte einige Schritte A b stand zwischen sich und ihre Tante. »Ich habe nicht gelauscht«, sagte sie leise und drehte der Gräfin den Rücken zu. »Wer immer das behauptet hat, ist ein Lügner.«
Ihre Tante trat neben sie und hielt ihr einen Stofffetzen vors Gesicht. »Dann muss er wohl auch das hier von de i nem Kleid abgerissen haben.«
Es war ein fingerlanges Stück vom Saum jenes G e wandes, das sie vor vier Tagen getragen hatte. Fee hatte bereits bemerkt, dass es herausgerissen war, doch als sie noch einmal in das Gästezimmer geeilt war, hatte sie es nirgends entdecken können.
»Woher hast du das?«
»Es klemmte unter einem der Bettpfosten«, sagte die Gräfin und drehte den Fetzen geschickt zwischen ihren langen Fingern. »Ich habe es selbst herausgezogen.«
»Und?«, fragte Fee und gestand sich ihre Niederlage ein. »Was hast du nun vor?«
Etwas Seltsames geschah im Gesicht der Gräfin. Die eisige Abneigung verschwand aus ihrem Blick und an ihre Stelle trat etwas, das Sanftmut verblüffend nahe kam. »Dein Onkel weiß nichts davon, und dabei wird es bleiben. Er hat nur gehört, was einer der Diener ihm e r zählt hat, aber es gibt keinen Beweis außer diesem hier.« Damit e r griff sie Fees Hand, öffnete ihre Finger und legte den Stofffetzen hinein. »Da hast du ihn. Wirf ihn in den Kamin.«
Fee blickte verwundert von ihrer Hand ins Gesicht der Gräfin. »Warum tust du das?«
Ihre Tante lächelte vage. »Es wird Zeit für dich, e r wachsen zu werden, Fee. Ich h a be beschlossen, dich dementsprechend zu behandeln.« Sie drehte sich um und ging zur Tür. Von dort aus schaute sie noch einmal z u rück. »Dein Onkel hat die Angelegenheit wahrscheinlich längst vergessen. Er ist ohnehin die nächsten beiden Tage nicht auf der Burg. Danach wird er anderes im Kopf h a ben als die Kinderstreiche seiner Nichte. Und, Fee – das Loch im Boden wurde verschlossen, du kannst dir die Mühe sparen nachz u sehen.«
Die Gräfin verließ das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Fee starrte ihr sprachlos hinterher, selbst dann noch, als es nichts mehr zu sehen gab außer dem Holz des Türflügels. Was immer ihre Tante mit diesem Auftritt bezweckt hatte, eines zumindest war ihr grün d lich gelungen: Fee war verwirrt.
Der Fetzen in ihrer Hand fühlte sich so heiß an, als würde er jeden Moment in Flammen aufgehen.
Drei Wochen später verzogen sich die Regenwolken und die Alten prophezeiten, dass das schöne Wetter keine s falls kürzer als vier Tage und Nächte anhalten werde. Darau f hin kam dem Grafen der Einfall, gemeinsam mit seiner Familie und anderen ausgewählten Burgbewo h nern den Fluss zu überqueren und die Fortschritte beim Bau seiner neuen Feste, Burg Reichenberg, zu begutac h ten. Er warnte alle, man möge sich nicht zu viel davon versprechen, da bislang erst die Fundamente und einige wenige Mauern errichtet seien. Seine Frau und Fee aber, die beide den Ort noch nicht mit eigenen Augen gesehen hatten, bestärkten ihn in seinem Entschluss, und so wu r den im Morge n grauen eines Tages, der klar und sonnig zu werden versprach, im Burghof die Pferde gesattelt. Für die beiden edlen Damen wurde eine Kutsche berei t gestellt. Zwei Dutzend Wachen sollten den Tross b e schützen, daneben nahmen zwei Ritter, Freunde des Gr a fen von benachbarten Ländereien, an dem Ausflug teil.
Zu ihrer Überraschung hatte man auch Ailis angewi e sen, sich für die Reise bereit zu machen. Sie vermutete, dass abermals Fee ihre Finger im Spiel hatte, war aber nicht vollkommen sicher. Wieder zog sie es vor, sich nicht mit allzu langer Grübelei darüber abzugeben. Wenn es gewünscht war, würde sie an dem zweitägigen Ausritt teilnehmen. Es war eine hübsche Abwechslung von ihrer täglichen Arbeit in Erlands Schmiede und es würde sie vielleicht auf andere Gedanken bringen. Die Vorstellung, den Lurlinberg hinter sich zu lassen, bestärkte ihre Hof f nung, das Mädchen im Brunnen schon bald aus ihrem Kopf vertrieben zu haben. In der Tat hatte sie seit der Nacht in der Schmiede keine Anzeichen einer Beeinflu s sung mehr gespürt, und fast war sie gewillt, Erlands E r klärungen Glauben zu schenken.
Noch ehe die Sonne über den Bergen erschien, war der Trupp bereit zum Aufbruch. In einer langen Kette schlängelten sich die Berittenen aus dem Burgtor, den Hang hinab zum Flussufer. Das Übersetzen mit der Fähre
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