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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Vorstellung, alleine diesen Wald zu betreten, behagte ihr nicht. Und doch war ihr, als hätte sie gar ke i ne andere Wahl – ob mit oder ohne Fee, sie würde sich diese Ruinen ansehen.
    Die Stelle, an der die Bäume enger beieinander sta n den, kam immer näher, schien sich wie eine stumme A r mee auf sie zuzubewegen. Ihr Herzschlag raste, und ei n mal horchte sie sogar in sich hinein, suchte nach Anze i chen des gefürchteten Lockgesangs. Doch der Lurlinberg und das, was er barg, waren weit entfernt, und es war lächerlich anzunehmen, sie könnte hier auf etwas Ähnl i ches stoßen – noch einen Schacht, noch ein kleines Mä d chen, das in Wahrheit etwas ganz anderes war.
    Blutperlen, die auf einem weißen Gesicht zerplatzten.
    Das Pferd wurde langsamer, schnaubte unruhig, wollte s ich aufbäumen. Ailis schwankte im Sattel, plötzlich drehten sich Feuerräder vor ihren Augen.
    Leises Lachen. Und ein Vogel, nur noch Federn und Feuchtigkeit, ganz warm in i h ren Händen.
    Ein Arm schoss vor, packte Ailis’ Stute an den Z ü geln. Fee war plötzlich neben ihr, hielt das Pferd fest, während ihr eigenes unruhig tänzelte.
    »Das war dumm«, schimpfte Fee. »Das Tier hat Angst, das siehst du doch.«
    Ailis war schwindelig, sie hatte Mühe, sich im Sattel zu halten. »Du hast Angst, sei doch ehrlich.«
    »Na und?« Auf Fees Stirn erschien eine Zornesfalte. »Ich weiß nicht, ob hier wirklich Kobolde am Werk w a ren, aber mir liegt nicht viel daran, es herausfinden. Ist das so schlimm?«
    Ailis kam zur Besinnung, schüttelte verstört den Kopf. »Nein – natürlich nicht«, stammelte sie. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich – «
    Eine Stimme unterbrach sie. Ein lauter Ruf, weit hi n ter ihnen auf dem Berg: »Frä u lein! Fräulein Fee!«
    Sie fuhren herum. Ein Reiter kam den Hang herab, dick vermummt, doch sie e r kannten ihn beide. Es war ein berittener Bote des Grafen und er war außer sich vor Aufregung. Ailis spürte, wie sich ihr Magen zusamme n zog.
    Schweigend warteten die Mädchen, bis der Mann h e rangekommen war. Der Waldrand erhob sich finster hi n ter ihnen wie die anbrechende Nacht, es knisterte und raschelte im Geäst und einmal hörten sie weit in der Fe r ne das Heulen eines Wolfes.
    Der Reiter brachte sein Pferd vor ihnen zum Stehen, verharschter Schnee stob auf. Als er sprach, klang er so atemlos, als hätte er den ganzen Weg zu Fuß zurückg e legt.
    »Fräulein Fee!«, rief er noch einmal aus und würdigte Ailis mit keinem Blick. »Ihr müsst sofort umkehren. Euer Onkel hat mich gesandt.«
    »Was ist geschehen?«, fragte Fee. Ailis bemerkte e r staunt, wie mühelos es ihrer Freundin gelang, einen he r rischen Unterton in ihre Stimme zu legen.
    »Er ist zurück«, brachte der Mann unter stoßweisem Atem hervor.
    »Ritter Baan?«, fragte Fee eine Spur zu aufgeregt.
    Ailis warf ihr einen scharfen Blick zu, doch ihre Freundin bemerkte es gar nicht.
    »Baan?«, wiederholte der Bote, einen Augenblick lang überrumpelt. »Nein, Fräulein.« Er straffte seinen Obe r körper, um die Botschaft mit der nötigen Würde zu ve r künden. »Es geht um Euren Vater«, sagte er. »Er ist z u rückgekehrt.«
     
    Der Rückweg schien sich unendlich in die Länge zu zi e hen. Es hatte nicht mehr geschneit, der Himmel war i m mer noch stahlblau, aber Fee kam es vor, als läge der Schnee mindestens doppelt so hoch wie zuvor. Die Pfe r de waren erschöpft und verwe i gerten den Galopp. Fees Kleidung war von innen durchgeschwitzt und ihr wurde al l mählich empfindlich kalt.
    Während des ganzen Ritts brachte Fee kaum ein Wort hervor. Sie starrte auf den Rücken des Boten, der ihren kleinen Tross jetzt anführte, und versuchte verzweifelt, sich über bestimmte Dinge klar zu werden.
    Die wichtigste Frage: Wie würde sie ihrem Vater en t gegentreten? Sie wusste nicht einmal, wie er aussah, g e schweige denn, was für ein Mensch er war. Er hatte sie in der Obhut seines Bruders zurückgelassen, als sie ein Neugeborenes w ar, gleich nach dem Tod ihrer Mutter. Fee besaß nicht die leiseste Erinnerung an ihn, und das Bild, das sie von ihm hatte, war eine Schöpfung ihrer Fantasie, zusammengesetzt aus den spärlichen Beschre i bungen ihres Onkels und einiger Bediensteter.
    Noch weniger wusste sie über sein Wesen, seine Art, seine Gefühle. Sie machte ihm keine Vorwürfe, wie die meisten anderen in der Burg. Er hatte ihre Mutter abgö t tisch geliebt, dessen war sie sicher, und nach ihrem Tod hatte er sich von allem, was

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