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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Tafel ging. Keine Umarmung. Kein freundl i ches Wort. Er hatte sie nicht einmal begrüßt!
    Wie deine Mutter.
    Pah, darauf konnte sie verzichten. Sollte er sich doch ein Bild ihrer Mutter malen lassen! Ein Gemälde würde nicht erwarten, dass er es in den Arm nahm, dass er mit ihm sprach, sich mit ihm freute. Dass er es als lebenden, denkenden, fühlenden Menschen akzeptierte, nicht als das Spiegelbild einer Toten.
    Fee fuhr auf der Stelle herum und verließ stumm den Saal. Sie zog die Tür so heftig hinter sich zu, dass die Flügel krachend erbebten, und als einer der Wachtposten – vielleicht mitfühlend, vielleicht auch nur neugierig – das Wort an sie r ichten wollte, schenkte sie ihm einen so eisigen Blick, dass er ohne einen Laut die Lippen aufei n ander presste und stur an ihr vorüber sah.
    Sie lief durch das ganze Haupthaus der Burg, durch jeden Gang, an jeder Kamme r tür vorbei, und niemand begegnete ihr. Alle hatten sich bei Eberharts Eintreffen im Hof versammelt; der Eintritt ins Haus aber war ihnen von den Wächtern verwehrt worden. Fee war dankbar dafür. Sie wollte allein sein, keinen sehen, mit niema n dem sprechen. Nicht einmal mit Ailis.
    Schließlich aber führte ihr Weg sie zurück zum Ritte r saal, mit versteinertem Gesicht und unterdrückten Tr ä nen. Sie verstand sich selbst nicht. Was lag ihr schon an diesem Fremden? Ob er ihr Vater war oder nicht, sie kannte ihn doch nicht einmal. Und wie es schien, würde sie ihn auch niemals wirklich kennen lernen. Er legte keinen Wert darauf, gut, dann sollte es ihr nur recht sein. Was dachte er sich eigentlich dabei, hier aufzutauchen, aus dem Nichts, ein Schatten aus der Vergangenheit, und sie mit seiner Gleichgültigkeit zu beleidigen?
    Die Wachtposten zuckten mit den Achseln, als sie Fee kommen sahen, und sie verstand sofort, was sie meinten: Keine Veränderung. Nichts hatte sich gerührt, ni e mand hatte den Saal verlassen.
    Schon wollte sie sich abwenden, irgendwohin gehen, wo sie sich nicht selbst als die Unterlegene, als Geschl a gene fühlen musste, als plötzlich die Tür des Rittersaals aufg e rissen wurde. Flackernder Feuerschein vom Kamin raste als breiter werdender Streifen über den Boden des düsteren Flurs, dann wurde der Türspalt von einer Si l houette ve r dunkelt.
    Ihr Vater trat aus dem Portal, die Stirn glänzend vom Schweiß der Erregung, die Furchen in seinem Gesicht noch t iefer und dunkler vor Zorn. Mit weiten Schritten lief er an den beiden Wächtern vorbei, achtete nicht auf die Stimme der Gräfin, die ihm von drinnen etwas nac h rief, achtete auch nicht auf Fee, die ihm erst entgegen- und dann hinterherschaute. Ohne ein Wort, ohne einen Blick ging er an ihr vorüber, den Korridor hinunter.
    Er sieht mich nicht an, dachte Fee wie betäubt.
    Sieht mich nicht einmal an.
     
    Ailis erwachte vom Bersten der Eisschollen auf dem Rhein, Geräusche wie von Schi f fen, die während einer Seeschlacht ineinander rasten, den Rammsporn voraus, krachend und knirschend durch die Bordwand der Fei n de.
    Wenige Augenblicke später aber erkannte sie, dass es nicht die Geräusche waren, die sie geweckt hatten. Es war der Lockgesang vom Lurlinberg. Unwiderstehlich übe r kam sie das Verlangen aufzustehen, hinauszugehen, im kalten Mondlicht auf den Zi n nen zu stehen und den Blick zum anderen Ufer zu wenden.
    Sie streifte ihre wärmste Kleidung über, selbst übe r rascht, dass sie ihre Sinne s o weit beieinander hatte. Schlüpfte in ihre Fellstiefel, warf sich den Mantel um die Schu l tern. Im Schatten der Kapuze war ihr nicht nur wärmer, sie fühlte sich auch sicherer. Vielleicht, weil der Stoff so eng an den Ohren anlag, den Gesang des Mä d chens dämp f te und seine Macht über sie verringerte.
    Als sie aber hinaus auf den Gang trat, wurde ihr plöt z lich etwas klar. Was sie hier tat, tat sie aus eigenem Wi l len! Sie hörte zwar die ferne Stimme des Mädchens, doch es waren nicht die geisterhaften Töne und Melodien, die sie lenkten. Sie war aufgestanden, weil sie selbst es so wollte und sie k onnte ebenso gut zurück in ihre Kammer gehen und sich wieder ins Bett legen. Das blieb, so u n glaublich es schien, allein ihr selbst überla s sen, und diese Erkenntnis vertrieb sogar die eisige Kälte aus ihren Gli e dern.
    Doch wenn der Gesang des Mädchens in dieser Nacht tatsächlich nicht an sie g e richtet war, wem galt er dann?
    Um das herauszufinden, musste sie weitergehen, musste hinauf auf die Zinnen kle t tern, hinabschauen in den Hof

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