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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Wilhelms kein Platz.
    Der Wächter kehrte zurück und schob den rechten Türflügel zu voller Weite auf. Fee trat hindurch, den Blick mühsam nach vorne gerichtet, aufrecht und erfüllt von falschem Stolz, der nichts war als eine Maskerade zu ihrem e i genen Schutz.
    Der Graf und die Gräfin saßen auf ihren angestam m ten Plätzen an der Tafel und blickten ihr entgegen, ihr Onkel finster, als sei er gerade in einem Zornesausbruch gestört worden, ihre Tante mit sanftem Lächeln, das vie l leicht ernst gemeint, vielleicht auch gekünstelt war; bei ihr war das schwer zu sagen. Im Kamin brannte ein Fe u er, es war sehr warm im Saal, und Fee wünschte sich, sie hätte erst ihre Winterkleidung abgelegt, bevor sie hierher gekommen war.
    Ein Mann – dein Vater, Fee, dein Vater! – saß mit dem Rücken zu ihr am vorderen Ende der Tafel und drehte sich jetzt langsam um. Er hatte hellblondes Haar, fast weiß. Er sah sie ohne ein Wort über die Schulter hinweg an, dann erhob er sich und trat um den Stuhl auf sie zu.
    Fees Lächeln flackerte wie die Flammen im Kamin. Sie versuchte, es aufrechtzue r halten, aber es wollte ihr nicht völlig gelingen. Zu viele Gefühle, zu viele Befürc h tu n gen, Hoffnungen, Wirrnisse in ihrem Kopf.
    Eberhart von Katzenelnbogen war einige Jahre jünger als ihr Onkel, doch sein G e sicht verriet auf den ersten Blick, dass er in seinem Leben viel durchgestanden und großes Unrecht erlitten hatte. Seine Züge waren eing e kerbt, spröde, und die Falten um seine Augen und Mundwinkel rührten gewiss nicht vom Lachen. Er war sehr groß; Fee hatte das Gefühl, jetzt schon zu ihm au f schauen zu müssen, obwohl er noch einige Schritte en t fernt war. Seine Augen waren blau wie ihre eigenen, noch schöner, fand sie, und sein Nasenrücken verlief schmal und gerade wie eine Dolchklinge. Von der Kälte während der Reise waren seine Lippen gesprungen, auch das war ihm und Fee gemei n sam. Seine Wangen w aren von kurzen, weißgrauen Stoppeln bedeckt, sein Kinn ha t te ein leichtes Grübchen. Er sah aus wie jemand, den man mögen könnte, wenn man das Schicksal hinter dieser Fassade verstand, wenn man sicher war, dass die G e heimnisse, die sein Äußeres verhießen, mehr waren als die Schrullen eines Einzelgängers und Abenteurers.
    »Vater«, grüßte Fee ihn und deutete eine Verbeugung an. Vielleicht war das ein Fehler. Höflichkeit und Etike t te würden ihn nicht beeindrucken. »Ich bin Fee«, fügte sie hinzu, »deine Tochter.« Das klang, als müsse sie ihn erst davon überzeugen, so als sei sie sich selbst nicht ganz sicher darüber.
    Er schaute sie an, sein Gesicht halb im Schatten, schweigend, vielleicht erstaunt. Was immer er erwartet hatte – sie verkörperte nichts davon.
    Ich habe es gewusst, dachte sie gekränkt. Er hatte sich jemanden ganz anderes e r hofft, jemanden wie er selbst, rau und kühn und ohne das zierliche Gebaren einer Ho f jungfer. Kein Püppchen mit langem Goldhaar, schmalen Hüften und viel zu dünnen Beinen.
    »Wie deine Mutter«, sagte er leise. Kaum mehr als ein Flüstern.
    Hatte er sich das gewünscht? Das Ebenbild ihrer Mu t ter?
    »Du siehst aus wie sie«, fügte er hinzu, tief in Geda n ken.
    Sie überlegte, was sie darauf erwidern könnte, doch er ließ ihr gar keine Gelege n heit dazu. Mit einem Ruck fuhr er herum, schaute zurück zu seinem Bruder und dessen Weib.
    »Wo ist – «, begann er, doch im selben Augenblick sprang die Gräfin auf und fegte ihren Weinkelch vom Tisch. Das t önerne Gefäß barst lautstark am Boden, du n kelroter Wein spritzte sternförmig in alle Richtungen.
    Es soll aussehen wie ein Versehen, dachte Fee, aber das war es nicht. Pure Absicht.
    »Fee«, sagte die Gräfin bestimmt, »lass uns noch e i nen Augenblick allein. Dein V a ter und wir haben einiges zu besprechen.« Sie schaute ihren Gatten Hilfe suchend an, etwas, das sie sonst nie tat.
    »Warte vor der Tür, Fee«, sagte der Graf geschwind und stand auf. »Wir rufen dich, wenn es soweit ist.«
    Sie wollte protestieren, die beiden anschreien, ihnen ins Gesicht brüllen, dass es nicht ihre Sache war, ob und wann und wie lange sie mit ihrem Vater zusammen war; dass sie ihr nichts mehr zu befehlen hatten, jetzt nicht mehr, denn nun war ein anderer da, der über sie en t schied.
    Über mich entscheidet!, durchfuhr es sie. War es wir k lich das, was sie wollte?
    Doch alles, was sie einzuwenden hatte, blieb ihr im Halse stecken, als sie sah, wie ihr Vater sich umdrehte und zurück zur

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