Loreley
ihn an sie erinnerte, lösen wollen. Von der Burg, seinem Bruder und von seiner Tochter, die er nie kennen gelernt hatte.
Würde er enttäuscht sein, wenn sie ihm gegenübe r stand? Was erwartete er? Sicher, sie war hübsch, von anmutiger Gestalt und gewiss nicht dumm, aber war es wirklich das, worauf es ihm ankam? Was, wenn er sich eine Tochter wie Ailis wünschte, ein Mädchen zum Pfe r de stehlen? Nach all den Jahren in der Fremde musste er ein harter, weltgewandter Mann sein. Erwartete er die gleichen Eigenschaften auch von ihr und musste sie ihn dann nicht maßlos enttäuschen?
Aber noch hatte sie ihn ja nicht einmal zu sehen b e kommen. Vielleicht war alles auch nur ein Irrtum. Aus welchem Grund sollte er nach so langer Zeit zurückke h ren? Bestimmt hatte er anderswo ein zweites Leben b e gonnen, hatte ein neues Weib, vie l leicht sogar Kinder. Hier hingegen erwartete ihn nichts, keine Reichtümer, keine Ane r kennung, nicht einmal eine Familie, die Wert auf ein Wiedersehen mit ihm legte.
Fee war es, als beobachtete sie sich selbst von auße r halb ihres Leibes. Sie sah eine Fremde, die all diese wi r ren Gedanken dachte, die sich vor Aufregung kaum au f recht im Sattel halten konnte und Mühe hatte, eine An t wort zu finden, wenn das Wort an sie gerichtet wurde. So vieles brach über sie herein, so viele Empfindungen, ec h te und erträumte Erinnerungen, Wunschvorstellungen und, ja, Schuldgefühle – die Ahnung einer Schuld, die ihr Vater ihr zuweisen mochte, denn ohne sie wäre ihre Mu t ter noch am Leben. Würde er so ehrlich – aber auch so grausam – sein, das auszusprechen? Sie würde es in se i nen Augen lesen können, ganz gleich, was er sagte. Plötzlich erkannte sie, dass sie viel mehr Angst als Fre u de empfand, und sie fragte sich, ob es das wirklich wert war.
Die drei erreichten die Burg, als die Sonne bereits i h ren höchsten Stand überschri t ten hatte. Über den Bergen am anderen Ufer zogen neue Schneewolken auf und das Knirschen der Eisschollen auf dem Rhein drang bis zum Tor herauf.
Das ist das furchtsame Flehen der Flussweiber, sagten die Alten in jedem Winter, ihr Jammern und Weinen, wenn die Kälte kommt und sie unter einer Decke aus Eis begräbt.
Lebendig begraben, durchfuhr es Fee, als sie zum Rhein hinabsah; im Augenblick schien ihr das fast verl o ckend im Vergleich zu dem, was ihr selbst bevorstand.
Ailis redete beruhigend auf sie ein, aber Fee hörte kaum, was sie sagte. Sie spürte die Blicke der Menschen im Hof wie Spitzen in einem Nadelkissen, stechend und von allen Seiten auf einmal. Mit dem Rest von Anmut, den sie noch zu Stande brachte, glitt sie vom Pferd und drückte die Zügel einem Stallknecht in die Hand. Ailis streichelte ihren Arm, und Fee gelang es immerhin, ihr einen dankbaren Blick zuzuwerfen, dann löste sie sich von ihr und trat durch eine Gasse aus Menschen zum Portal des Hauptha u ses. Es stand offen und wurde von zwei Männern bewacht. Aus dem Inneren d rang kein Laut. Alle Türen mussten geschlossen sein, damit nichts nach außen drang von dem, was ihr Onkel und ihr Vater zu besprechen hatten.
»Wie lange sind die schon da drin?«, fragte Fee leise, als sie Amrei in der Menge entdeckte.
Die Zofe zitterte vor Aufregung. »Nicht lange. Euer Vater ist eben erst eingetroffen. Der Bote wurde gleich ausgesandt, als die ersten Nachrichten vom Näherko m men Eures Vaters die Burg erreichten.«
Fee hätte sie gerne gefragt, wie er aussah, welchen Eindruck sie von ihm hatte, doch dann wurden ihr die Gesichter all der anderen Menschen bewusst, die sie u m standen, und sie zog es vor zu schweigen. Ohne ein we i teres Wort trat sie an den Wachen vorbei ins Haus und ließ die atemlose Neugier der Menge hinter sich.
Zögernd und mit weichen Knien näherte sie sich dem Eingang des Rittersaals. Das Doppeltor war geschlossen, zwei weitere Soldaten hielten davor Wache, auge n scheinlich um wissbegierige Diener zu vertreiben.
»Meldet meinem Onkel …«-sie verbesserte sich-»… meinem Vater, dass ich hier bin.« Ihre Stimme schwan k te.
Der Wächter verschwand im Inneren des Rittersaals, und sie hörte, wie er sie a n kündigte. Keine Musikanten spielten zur Begrüßung ihres Vaters, und da wusste sie mit Gewissheit, dass es auch später keine Feierlichkeiten geben würde. Kein Wiedersehensbankett, kein gemei n sames Festtagsmahl. Ihr Onkel hatte seinem Bruder nie ve r ziehen, dass er vor seiner Trauer davongelaufen war. Für dergleichen war im Herzen Graf
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