Loreley
sich festhalten konnten, so als verschiebe sich tief in ihr das Maß dessen, was diese Gefühle hervo r rief.
Nachts, in der Dunkelheit ihrer Kammer, fragte sie sich seither, ob etwas von ihr verloren gegangen war, ein Stück ihrer Seele, ihres Herzens vielleicht – oder aber, ob etwas in sie hineingefahren war, ein Teil dieses Wesens im Felsenschacht. Dann öffnete sie geschwind die Augen und starrte zum Fenster, angstvoll den Schlaf fortbli n zelnd, denn sie wusste, wenn er zurückkäme, würde er Träume mit sich bringen, Träume, die nicht ihr, sondern einer anderen gehörten. Träume von Blut und Wahnsinn und Stacheln aus Stahl.
Fee war zwei Pferdelängen vor ihr und kreischte ve r gnügt, als sie im Vorbeireiten an einem Ast zog und sich aus den Baumkronen eine gewaltige Ladung Schnee über Ailis und ihre Stute ergoss. Es war ihr erster Ausritt seit Einbruch des Winters und die Gräfin hatte ihn nur gesta t tet, weil der Himmel in der Nacht klar und wolkenlos gew e sen war. Es sah nicht aus, als sei an diesem Tag neuer Schnee zu erwarten und ein Ausflug in die Umg e bung schien keine Gefahren zu bergen. Räuber und W e gelagerer wagten sich nicht in die Nähe der Burg und das eisige Wetter tat ein übriges, sie in ihre Unterschlüpfe zu treiben.
Ailis wusste, dass Fee ihr die Geschichte von der fe h lenden Erinnerung nicht glau b te, nicht wirklich, aber sie sah auch, dass Fee Zweifel an ihren eigenen Empfindu n gen hatte. Misstraute sie Ailis, weil sie tatsächlich spürte, dass sie die Unwahrheit sagte, oder tat sie es, weil sie viel zu neugierig war, um eine so vage Erklärung zu a k zepti e ren? Ailis war insgeheim froh über Fees Zwiespalt, lenkte er sie doch von weiteren Fragen ab.
Doch auch Fee hatte ein Geheimnis, das Ailis allzu gern erfahren hätte. Was war in jener Nacht in Baans Kammer geschehen? Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht in der Burg verbreitet, dass Fee das Bett mit dem Ritter hatte teilen müssen, und jede r mann mutmaßte über das, was vorgefallen war. Dienerinnen hatten am nächsten Tag die Laken untersucht und, wie bald jeder wusste, keine Spuren von Blut entdeckt. Selbst Ailis, die sonst nie am Gerede der Leute teilhatte, kam nicht u m hin, einiges mitanzuhören – und die Nachricht, dass a u genscheinlich nichts Verfängliches zwischen Fee und Baan geschehen war, hatte sie vor Erleichterung mit stummem Jubel erfüllt. Um nichts in der Welt wollte sie ihre Freundin noch einmal verlieren, dessen war sie sich späte s tens seit dem verunglückten Wiedersehen mit ihren Eltern bewusst. Fee war der einzige Mensch, der ihr wirklich etwas bedeutete, und die Vorstellung, dass sie für einen fremden Mann Zuneigung, gar Liebe empfi n den könnte, tat Ailis weit mehr weh als die schmerzliche Erinnerung an ihre Eltern.
Ailis war so in Gedanken versunken, dass sie kaum wahrnahm, welche Richtung Fee einschlug. Sie entfer n ten sich von der Burg und vom Rhein und damit auch vom Lurlinberg am anderen Ufer. Alleinsein, irgendwo im Wald, fern allem Vergangenen, wo geisterhafte Mä d chen in Brunnenschächten und Ritter auf Brautschau ke i ne Bedr o hung bedeuteten. Einsam in einer Landschaft, die schweigend unter Schnee und Eis schlummerte, wo ihre Geräusche und Stimmen ganz anders klangen als sonst. Unschu l diger.
Sie ritten einen Hang hinab, der nur spärlich mit Fic h ten bewachsen war. Die Spuren der Jäger blieben allmä h lich zurück und die Pferde hatten in dem hohen Schnee merkliche Mühe voranzukommen. Vor ihnen breitete sich ein bewaldetes Tal aus, eine Mulde zwischen den Hängen, über deren Wipfeln ein Bussard kreiste. Ailis war noch nie hier gewesen – sie hatte die Burg ohnehin kaum jemals verlassen –, aber Fee schien sich in dieser Gegend auszukennen. Ausritte waren für eine junge D a me ihres Standes keine Seltenheit, wenn sie auch zumeist in Begleitung ihrer Zofen, des Grafen oder einiger Sold a ten stattfanden.
»Ich glaube, wir müssen bald umkehren«, rief Fee über ihre Schulter nach hinten. »Die Pferde schaffen es nicht weiter. Der Schnee ist zu hoch.«
Ailis deutete mit ausgestrecktem Arm auf etwas, das ihr schon von der Bergkuppe aus aufgefallen war. »Was ist das da unten?«
»Meinst du die Lichtung?«
»Das, was darauf steht.« Die Sonne brach sich auf der Schneedecke und blendete Ailis. Sie blinzelte, um besser sehen zu können. »Sind das Ruinen?« Dunkle Formen erhoben sich auf der freien Fläche inmitten des Waldes, fast genau im Zentrum des
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