Loreley
Onkel und seine En t scheidung derlei Äußerlichkeiten von minderer Bede u tung waren.
Warum also nicht Baan?
Und doch – sie fühlte sich nicht bereit dazu, irgendj e mandes Frau zu werden, nicht die seine und nicht die eines anderen. Andererseits, wenn sie ihn hinhielt, konnte sie ihn ihrem Onkel gegenüber als Faustpfand in der Hi n terhand behalten. Falls wirklich ein anderer des Weges kam, mochte sie immer noch schüchtern eingestehen, dass sie sich heimlich Baan versprochen habe. Das war etwas, für das ihr Onkel Verständnis haben würde, ja, mit etwas Glück würde er ihre Wahl gar begrüßen.
»Nun gut«, sagte sie schließlich, »so hört mich an.«
Wieder blitzte Heiterkeit in seinen Augen. Vielleicht sollte sie nicht ganz so gewichtig tun. Blitzschnell en t schied sie, die Sache anders anzugehen.
Sie beugte sich vor, und – ehe er sich versah – gab sie ihm einen Kuss auf die Li p pen. Ganz kurz nur, ganz leicht, aber sie spürte das Beben, das durch seinen Kö r per raste, vor Überraschung, aber auch vor Erregung.
»Heißt das – «, begann er, doch sie unterbrach ihn mit einem sanften Kopfschütteln.
»Habt Geduld«, sagte sie leise und nicht ohne Zär t lichkeit. »Wusstet Ihr, dass heute mein Geburtstag ist?«
»Ich – «
»Psst«, machte sie und legte ihren schmalen Zeigefi n ger an seine Lippen. »Hört mir zu. Heute ist mein G e burtstag. Gebt mir ein Jahr. Ein einziges Jahr. Heute in zwölf Monden will ich Euch meine Entscheidung mitte i len.«
Sogar im Schatten erkannte sie die Enttäuschung auf seinen Zügen. Aber auch das hoffnungsvolle Glitzern in seinem Blick.
»Ein Jahr ist eine lange Zeit«, sagte er und seine Stimme klang heiser. Himmel, sie hätte nicht gedacht, dass es ihr tatsächlich gelingen würde, ihn aus der Fa s sung zu bringen!
»Eine lange Zeit, vielleicht«, sagte sie. »Aber so wie Ihr eine Frau wollt, die Euch freiwillig folgt, so will ich genug Zeit, um mir über meine Zuneigung für Euch klar zu werden.«
Sein Blick ließ sie nicht mehr los. Selbst wenn sie g e wollt hätte, sie hätte ihn nicht abstreifen können.
»Ihr seid eine gerissene junge Dame«, sagte er leise.
»Und wenn du Glück hast, ein gutes Eheweib.« Sie wählte mit Absicht die vertraute Anrede. Ein heißes L o dern floss durch ihre Glieder. Nur der Triumph, beruhigte sie sich.
»In einem Jahr?«, fragte er noch einmal.
»An meinem siebzehnten Geburtstag. Wirst du so la n ge warten können?«
»Du spielst mit mir.«
»Willst du es denn anders?«
Damit sank sie zurück auf ihr Kissen und schloss z u frieden die Augen. Sie hörte ihn neben sich atmen und wusste, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf finden wü r de.
Sie kam sich sehr berechnend vor.
Und sehr erwachsen.
6. Kapitel
Tage nach Baans Ankunft und drei nach seiner Abreise fieberten Ailis und Fee dem Sonnenaufgang mit solcher Spannung entgegen, als erhofften sie sich von ihm eine geheime, lang erwartete Botschaft. Kaum glühten die ersten Strahlen durch die Bau m wipfel, da sprangen die beiden schon auf ihre gesattelten Pferde, ließen sie ung e duldig und unter den wachsamen Augen von Fees Zofen durch das Tor traben und dann, sobald sie außer Sich t weite waren, in wilden, ungezügelten Galopp ausbr e chen.
Sie preschten jubelnd den Waldweg entlang, auf dem Ailis einst dem Langen Jammrich gefolgt war, und bei jedem Zweig, den sie streiften, rieselten Eiskristalle von den Bäumen und hüllten sie in weiße, glitzernde Wolken. In den vergangenen Tagen hatte es fast ununterbrochen geschneit, eine kniehohe Schneeschicht bedeckte das Land. Der Weg durch den Wald jedoch war ausgetreten von Burgjägern auf der Pirsch, sodass sich den beiden Pferden kaum Widerstand bot.
Die Mädchen klammerten sich tief gebückt an die Hälse der Tiere, die wehende Mähne kitzelte Ailis an der Nase. Nach dem, was auf dem Lurlinberg geschehen war, hätte sie nicht gedacht, dass sie je wieder so fröhlich, so ausgelassen sein könnte. Doch obwohl die Ereignisse am Schachtgitter erst wenige Tage zurücklagen, war ihr, als verschwimme ihre Erinnerung daran mit jedem Atemzug ein wenig mehr, die Bilder verloren an Klarheit, die Wo r te und Klänge verwehten.
Fee gegenüber hatte sie erklärt, sie könne sich an nichts mehr erinnern. Und sie ha t te tatsächlich Mühe, sich die Dinge ins Gedächtnis zu rufen, obwohl sie ke i neswegs völlig verschwunden waren. Allein ihr Entse t zen, ihr Ekel und ihre Trauer fanden nichts mehr, an dem sie
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