Loreley
oder zum Fluss und beobachten, wer die Burg verlassen und den Lurlinberg erklimmen würde.
Es dauerte nicht lange, ehe sie den Wehrgang erreic h te. Der Schnee hier oben war seit dem Abend erneut überfroren, seine Oberfläche spiegelglatt. Ailis musste Acht geben, wohin sie ihre Füße setzte. Zur Hofseite hin gab es kein Geländer, das sie halten würde, falls sie au s rutschte. Außerdem wollte sie nicht, dass irgendwer sie hier oben bemerkte. Falls es wirklich noch jemanden in der Burg gab, der den Gesang des Mädchens hören kon n te, musste sie wissen, wer es war. Möglich, dass das u n heimliche Wesen sie aufgegeben und sich einen anderen gefügig gemacht hatte. Jemand, der nicht zögern würde, den Schlüssel aus Erlands Schmiede zu entwenden und das Stachelgitter zu öffnen.
Im Schutze eines Fasses voller Asche, eigentlich g e dacht, um damit den vereisten Wehrgang zu bestreuen und nun selbst unter einer Schneehaube begraben, blickte Ailis hinüber zum Tor. Die Wächter hatten sich um ein Feuer versammelt, vermummt und frierend, von den Schwaden ihres eigenen Atems umwölkt. Sie schienen den Gesang nicht wahrzunehmen, kauerten nur still be i einander und tranken heißes Gebräu aus einem Kessel über dem Feuer.
Ein leises Knirschen ertönte, als die Tür des Haup t hauses einen Spaltweit geöffnet wurde. Ein dunkler Schemen stahl s ich ins Freie. Im Hof brannten keine F a ckeln, und so war es zu finster, um Genaueres zu erke n nen. Erst als die Gestalt den Platz überque r te, sich an der alten Linde vorbei hinüber zum Tor stahl und in den Schein des Lagerfeuers trat, sah Ailis, dass es sich um e i nen Mann handelte. Hoch gewachsen, mit weißblo n dem Haar. Nicht warm genug gekleidet für eine Nacht wie di e se, als hätte er seine Kammer in größter Eile ve r lassen.
Ohne dass Ailis ihn am Nachmittag mit eigenen A u gen gesehen hatte, wusste sie doch, dass dies Eberhart von Katzenelnbogen war. Von Fee hatte sie erfahren, dass er sich in seiner Kammer verkrochen und die Tür verriegelt hatte, ohne Antwort zu geben auf Fees ve r zweifelte Fragen.
Ich hoffe, er verfault da oben, hatte Fee gesagt. Sie hatte Ailis unendlich Leid g e tan, doch es gab nichts, das sie für ihre Freundin hätte tun können. Ailis kannte sich aus mit Eltern, die ihre Töchter verstießen, aber auch sie hatte bisher kein Geheimrezept dagegen gefunden. A u ßerdem wollte sie nicht, dass Fee und sie sich in gege n seitigem Mitleid ergingen; dafür war ihre Freundschaft zu kostbar.
Als die Wachen den Bruder des Grafen erkannten, li e ßen sie ihn anstandslos passieren, mit dem wohl gemei n ten Rat, sich nicht allzu lange in dieser Kälte aufzuhalten.
Von ihrem Versteck aus konnte Ailis nicht sehen, in welche Richtung Eberhart sich wandte, deshalb schlich sie gebückt den Wehrgang entlang und näherte sich dem Tor. Hier schaute sie verstohlen über die Zinnen hinweg und sah, wie Fees Vater den ve r schneiten Weg zum Ufer hinab lief. Gleich würde er zu weit entfernt sein, um ihn länger zu beobachten. Ihr blieb keine Wahl: Sie musste ihm folgen.
Es war unmöglich, die Posten ungesehen zu passieren. Sie s chlich auf der anderen Seite des Hofes die Treppe hinunter, gab ihr Versteckspiel auf und näherte sich mit gespielter Gelassenheit dem Tor, so als sei das um diese Nachtzeit eine völlige Selbs t verständlichkeit. Prompt vertrat ihr einer der Wächter den Weg und befahl ihr, näher ans Feuer zu treten. Als die Männer sie erkannten, meinte einer:
»Wohin willst du, Ailis?«
»Was geht dich das an?«, erwiderte sie scharf. Die Wachen hatten ihr nichts zu b e fehlen, sie hatte sich schließlich nichts zuschulden kommen lassen.
»Wir sind heute Nacht wohl besonders guter Laune, was?«, fragte ein anderer.
»Es ist fast Vollmond«, entgegnete sie. »Ich kann nicht schlafen.«
»Und da hast du dir gedacht, du wanderst ein bisschen im Wald umher, nicht wahr?«
»Ganz genau.«
Jener, der ihr den Weg verstellt hatte, machte einen Schritt auf sie zu. »So eine Nacht ist nichts für kleine Mädchen. Da draußen heulen die Wölfe. Und es heißt, die Wasserleute sind wegen des Eises aus dem Fluss g e krochen und schleichen am Ufer umher.«
Einer der Soldaten am Feuer schnitt eine Grimasse. »Ach, hör schon auf. Damit machst du ihr bestimmt ke i ne Angst.«
Ailis nickte und warf dem Witzbold einen bösen Blick zu. »So ist es.«
»Geh zurück ins Haus«, wies der Wächter vor ihr sie an. »Es ist zu gefährlich da
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