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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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draußen.«
    Sie hätte schreien mögen vor Zorn über die Willkür dieses Kerls. Genau genommen hatte er kein Recht – und vor allem keinen Grund –, ihr den Durchgang zu verwe i gern.
    Andererseits gab es niemanden, bei dem sie sich b e schweren konnte.
    Da kam ihr eine Idee.
    »Hat der Bruder des Grafen gesehen, was ihr da über dem Feuer kocht?«, fragte sie und deutete auf den dam p fenden Kessel. »Was wird wohl euer Hauptmann sagen, wenn er davon erfährt?«
    Schweigen war die Antwort. Gereizte Blicke aus ve r kniffenen Augen. Einer ließ langsam den Becher mit dem heißen Met sinken. Gleich würden sie ihr Prügel andr o hen, Ailis konnte es von ihren Gesichtern ablesen. Was würde sie dann tun?
    Schließlich aber fragte jener, der vor ihr stand: »W o her weißt du überhaupt, dass der Bruder des Grafen hier vorbeigekommen ist?«
    Sie hatte inständig gehofft, dass er das fragen würde. »Hat er euch nicht gesagt, dass wir verabredet sind?« Falls sich das, was sie da andeutete, herumsprach, gar bis zu Fee vordrang, würde sie einiges zu erklären haben.
    »Verabredet?«, murmelte einer der Männer.
    Zwei andere tuschelten miteinander. »Dann hat er uns deshalb Stillschweigen b e fohlen«, sagte einer von ihnen schließlich ein wenig lauter.
    Der Wächter, der in Ailis’ Weg getreten war, starrte sie argwöhnisch von oben bis unten an. Sie sah genau, was in ihm vorging. Äußerlich war sie gewiss die Art von Mädchen, die dem Bruder des Grafen gefallen moc h te: rau und stark wie er, dabei von kühler Schönheit. Zugleich aber sank sie in den Augen des Mannes von einer verschrobenen Verrückten auf die Stufe einer Me t ze herab, die ihre Reize für ein paar Vergün s tigungen feilbot.
    Zögernd trat er zur Seite. »Geh«, sagte er abfällig und deutete durchs Tor. »Und sei dem Herrn nach seinen Wünschen zu Diensten.«
    Einer der anderen lachte, doch der Rest blieb still.
    Ailis beeilte sich, von hier fortzukommen. Nicht nur, weil sie Angst hatte, Ebe r harts Spur zu verlieren, sondern viel mehr, weil sie die Blicke der Männer nicht länger ertragen konnte. Sie sandte ein Stoßgebet zum Himmel, dass die Kerle Eberharts Schweigebefehl befolgten und dass am nächsten Tag nicht die ganze Burg von ihrem Ausflug wissen würde.
    Sie lief schlitternd den Weg zum Ufer hinab. Im Dorf regte sich nichts, auch nicht an der Anlegestelle der Fä h re. Um diese Jahreszeit gab es für den Fährmann nichts zu tun, das Eis hätte seine Fähre wie brüchiges Herbs t laub zermalmt.
    Wo aber war Eberhart?
    Sie entdeckte ihn, als sie angestrengt über den zug e frorenen Strom schaute. Im he l len Mondlicht stolperte er über das Gewirr der schaukelnden Eisschollen. Die gli t zer n den Platten rieben schabend gegeneinander. Was er da tat, war Wahnsinn! Ein falscher Schritt, eine unb e dachte Bewegung, und die Schollen würden unter ihm nachgeben. Wenn ihn erst die Strömung unter das Eis zog, gab es für ihn keine Rettung mehr. Man würde nicht einmal seinen Leichnam finden.
    Stocksteif blieb sie am Ufer stehen, blickte ihm nach. Um nichts in der Welt würde sie ihm auf die treibenden Schollen folgen. Siedend heiß durchzuckte sie die Vo r stellung, was wohl wäre, wenn der Lockgesang ihr gelten würde; auch sie hätte dann nicht gezögert, das tödliche Eis zu betreten.
    Eberhart schwankte, taumelte und fiel hin. Ailis sah mit angehaltenem Atem, wie er in die Knie brach und sich gerade noch mit den Händen auffing. Auf allen vi e ren kaue r te er a uf einer wippenden Eisscholle, vom Mondschein in frostiges Weiß getaucht, als sei er selbst zu einer Figur aus Eis erstarrt.
    Ailis wusste nicht, was sie tun sollte. Hilflos sah sie zu, wie er sich aufrappelte, ganz langsam, ganz vorsic h tig, und sich suchend nach einer festeren Scholle u m schaute. Ganz in seiner Nähe trieb die Strömung zwei Bruchstücke übereinander; das eine Stück barst in Du t zende Splitter und ein Beben lief durch die ganze Eisfl ä che. Abermals drohte Fees Vater zu stürzen, konnte sich nur mit Mühe halten.
    Plötzlich drehte er sich um und warf einen Blick z u rück über die Schulter. Ailis zuckte zusammen, sprang geschwind hinter den verlassenen Unterstand des Fäh r manns. Er musste sie dennoch gesehen haben, den einz i gen Menschen am Ufer, beschienen vom Mond, ein scharfer Umriss vor der schimmernden Schneeböschung. Hatte er sie erkannt? Was würde sie ihm sagen, wenn er sie später zur Rede stellte?
    Im Augenblick aber schien er ganz andere

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