Loreley
Sorgen zu haben. Sein Stand auf den schwankenden Schollen wurde immer unsicherer. Er versuchte einen Schritt nach rechts, dann einen nach links, beides vergeblich. Es gab kein Weiterkommen.
Ailis traute ihren Augen nicht, als sie sah, was dann geschah: Eberhart drehte sich um und kam zurück – o b wohl doch der Lockgesang des Mädchens noch immer in der eisigen Winterluft vibrierte! Wie war das möglich? Warum vermochte er den Bann der Melodie zu brechen, etwas, das Ailis nicht gelungen war?
Er wurde jetzt schneller, lief genau auf sie zu, und je näher er dem Ufer kam, desto fester wurde das Eis unter seinen Füßen. Schließlich sah sie, dass er rannte, und da erst überwand sie ihre Verblüffung, warf sich herum und lief zurück ins Dorf, zwischen den Hütten und win d schiefen Häusern hindurch, schließlich den Pfad zur Burg hinauf.
Aber er war schneller als sie! Er war größer, kräftiger, und er würde sie auf jeden Fall einholen. Die Vorste l lung, wie er sie unter den Blicken der Wächter durchs Burgtor zerrte, erfüllte sie mit Panik. Es gab nur eine Möglichkeit, dem zu entkommen.
Sie wich vom Pfad ab und schlug sich ins Gehölz oberhalb der Wegböschung. Die Spuren im Schnee wü r den sie verraten, falls er wirklich danach suchte.
Es dauerte nicht lange, da kam er den Weg herauf, keuchend vor Anstrengung, leicht vornübergebeugt. Sein Haar klebte ihm schweißnass an der Stirn, und seine Wangen glitzerten im Mondlicht.
Himmel, durchfuhr es sie, er weint!
Eberhart von Katzenelnbogen vergoss Tränen, sein ganzes Gesicht glänzte davon, und nun, da er näher kam, hörte sie ihn leise schluchzen. Ailis hatte nie zuvor einen Mann weinen sehen. Es war ein sonderbares Gefühl, ihn dabei zu beobachten, gerade ihn, der aussah, als habe er viel zu viel erlebt, um noch von irgendetwas derart b e rührt zu werden. Und doch sprach Verzweiflung aus se i nen rauen Zügen, echte, tief empfu n dene Trauer.
Der Gesang des Mädchens schwebte immer noch über dem Berghang, einlullend, aber nicht besitzergreifend. Ailis’ Gedanken überschlugen sich. Wenn die Klänge nicht an sie gerichtet waren, und augenscheinlich auch nicht an Eberhart, wem galten sie dann?
Sie war jetzt überzeugt, dass Fees Vater einen anderen Grund gehabt hatte, hinunter zum Ufer zu laufen. Wenn ihn wirklich der Lockgesang getrieben hätte, wäre es ihm nicht möglich gewesen, einfach kehrtzumachen. Ve r suchte das Mädchen also, einen ganz anderen auf den Lurlinberg zu locken? Einen oder gar mehrere? Ailis hä t te einen Finger ihrer rechten Hand dafür gegeben zu e r fahren, was in den Ruinen auf dem Bergplateau vor sich ging-. Wer stand in diesem Augenblick am Gitter, wer starrte hinab in den schwarzen Schacht, wer erlag dem säusel n den Flüstern des Mädchens?
Fees Vater passierte ihr Versteck, ohne auch nur einen Blick an ihre Fußspuren im Schnee zu verschwenden. Er rieb sich mit dem Handrücken über Augen und Wangen wie ein kleines Kind, das weinend vom Spiel in die Arme seiner Mutter läuft. Der Anblick traf Ailis so tief, dass sie trotz aller Furcht das Bedürfnis überkam, zu ihm zu g e hen, ihn zu trösten wie einen Freund.
Aber Eberhart von Katzenelnbogen war niemandes Freund, gewiss nicht der eines fremden Mädchens, das ihn bei Nacht durch den Schnee verfolgte und zusah, wie er weinte, ihm nachstellte in einem Augenblick, in dem er sich gänzlich allein und unbe o bachtet fühlte. Ailis kam sich schuldig und abgefeimt vor.
Eberhart verschwand hinter einer Wegkehre. Sie lauschte noch eine Weile länger auf sein leiser werdendes Stapfen im Schnee, dann verließ sie ihr Versteck und ging langsam hinterher. Verborgen hinter einem Bau m stamm sah sie, wie er das Tor passierte, ohne den Wäc h tern Beachtung zu schenken.
Sie ließ ihm genug Zeit, um ins Haus zu treten, dann lief auch sie hinauf zur Burg. Keiner der Wachen sprach sie an, aber sie bemerkte ihre höhnischen, wissenden Bl i cke, ahnte, wie sie ihr mit den Augen die Kleider vom Leib rissen und sich in der Vorste l lung ihres Körpers in den Armen Eberharts ergingen.
Es war ein Gefühl, als müsse sie nackt an ihnen vor ü bergehen, und doch zuckte sie mit keiner Wimper, schritt vielmehr erhobenen Hauptes und ohne einen Seitenblick an ihnen vorbei, spürte die Wärme des Lagerfeuers kommen und gehen, passierte den Schatten der Linde und betrat das stille Haupthaus.
Hinter ihr begann es erneut zu schneien.
7. Kapitel
Zwei Tage lang versuchte Fee, nicht an
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