Loreley
sie es ihm heute nicht machen.
Nur deshalb, nur aus diesem einzigen Grund, sagte sie: »Mir ist es recht, wenn du bleibst. Immerhin bist du mein Vater.«
Er lächelte. »Du würdest solch eine Einladung nicht so unbedacht aussprechen, wenn du mich besser kennen würdest.«
»Sagtest du nicht, dass du mich deshalb hast rufen la s sen – damit wir uns kennen lernen?«
Ihr Vater deutete auf einen verzierten Lehnstuhl neben dem Fenster. »Setz dich, bi t te.«
»Ist es so schlimm?«, fragte sie boshaft. »Was bist du, Vater? Ein Räuber? Ein Mörder?«
»Beides. Und Schlimmeres.«
Sie setzte sich tatsächlich, aber nicht, weil seine Worte sie überraschten. Sie hatte befürchtet, dass das, was er zu sagen hatte, nichts Erfreuliches sein würde.
Er ging langsam auf und ab, hinter sich das prachtvo l le Gästebett, auf dem seine halb leeren Satteltaschen l a gen. Er musste sie bei seiner Ankunft dorthin geworfen haben. Das Bett war seither nicht benutzt worden.
»Nach dem Tod deiner Mutter ging ich gleich von hier fort, das weißt du«, begann er. »Ich hatte kein Ziel, keine Bestimmung, nicht einmal Wünsche oder Hoffnungen. Bei meinem Abschied hatte ich allen Besitz, den mein Vater mir hinterlassen hatte, meinem Bruder übereignet. Wilhelm war ohnehin der Ältere von uns, ich hatte kein Anrecht auf die Burg oder auf die Ländereien. Das wen i ge, das ich besaß, ließ ich hier, mit der Bitte, es für dein Wohlergehen aufzuwenden. Als ich fortging, hatte ich nur ein paar Münzen in den Taschen, die Kleider, die ich am Leibe trug, ein Schwert und einen Dolch. Das war ein Fehler, aber ich glaubte damals, mit den Dingen, die ich zurückließ, würde auch meine Erinnerung zurückbleiben. Ich dachte, wenn ich alles hier lasse, das mir bis dahin etwas bedeutet hatte, könnte ich ganz von vorn anfangen. Ich war jung damals, jung und einfältig. Aber mit den Jahren lernt man, sich die eigene Torheit zu verzeihen. Man begreift ein wenig mehr über sich selbst. Vor allem wenn man sich auf gewisse Dinge einlässt, wie ich es getan habe.«
Er machte eine kurze Pause, und nach wenigen Her z schlägen fragte Fee: »Was für Dinge waren das?«
»Hast du je von den Apostlern gehört? Oder von ihrem Anführer, Fra Dolcino?«
Fee schüttelte den Kopf.
»Die Apostler waren ein Bund von Glaubensbrüdern, e in selbst ernannter Orden, den die Kirche mit Feuer und Schwert verfolgte.«
»Mönche?«
»Wir haben uns selbst als Mönche verstanden, ja, aber unsere Gelübde wurden nicht vor päpstlichen Pfaffen abgelegt, sondern vor Gott allein.«
»Wir?« Sie hatte mit vielem gerechnet, mit Geschic h ten über Räuber und Mor d brenner, niemals aber damit, dass ihr Vater ein Mönch sein könnte.
»Das Ideal der Apostler war die Armut, die völlige Besitzlosigkeit«, sagte er. »Als ich auf sie traf, einige Monde nachdem ich von hier fortgegangen war, war ich vol l kommen mittellos. Und ich war verzweifelt. Beides die besten Voraussetzungen, den Worten eines Mannes wie Fra Dolcino Glauben zu schenken.« Er hielt kurz inne, als müsse er sich seiner eigenen Beweggründe en t sinnen – für sein Handeln damals, aber vielleicht auch für die ve r wirrende Tatsache, dass er Fee sein Geheimnis offenbarte. Denn dass es ein Geheimnis war, daran zwe i felte sie nicht, ansonsten hätte sie schon viel früher davon gehört.
»Dolcino war nicht der erste Führer der Apostelbr ü der«, fuhr er schließlich fort. »Vor ihm war da ein Mann namens Gherardo Segarelli, ein gutgläubiger Tor, der um Aufnahme bei den Franziskanern gebeten hatte, von i h nen jedoch abgelehnt worden war. Gherardo war übe r zeugt vom Gebot der Armut, von den Leidensmienen der Gläubigen auf den großen Altargemälden, ihren ze r schlissenen Kleidern und nackten Füßen. Wie Franz von Assisi suchte er die Nähe zu Gott im Rückzug von allem Weltlichen und er wollte den Aposteln der Heiligen Schrift so ähnlich sein wie nur möglich. Er ließ sich b e schneiden wie die Juden, denn immerhin waren die Apostel einmal Juden gewesen, und er verschenkte a ll seinen Besitz. Predigend zog er durch die Lande, und viele fol g ten ihm, Arme wie Reiche, und alle wurden gleich, beteten nackt zu Gottes Sohn und gaben ihr früh e res Leben auf. Bald predigten auch andere in Gherardos Auftrag, sogar Frauen, und spätestens damit war der Punkt gekommen, an dem der Papst und die Kirche ihn verdammen und seine Anhänger als Ketzer brandmarken mussten. Gherardo wurde vom Bischof von Parma
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