Loreley
Dabei bin ich immer bei dir, als deine beste Freundin. Ich wü r de dich niemals verlassen, würde dich immer beschützen, egal was geschieht.«
Ailis brachte ein gequältes Stöhnen hervor, nichts sonst. Keinen Widerspruch.
»Nimm jetzt den Schlüssel und steck ihn ins Schloss«, sagte das Mädchen, das ke i nes mehr war.
Der Nachhall des Gesangs ließ Ailis gehorchen, o b gleich alles in ihr dagegen rebe l lierte. Sie konnte nicht anders. Sie musste tun, was das Echo von ihr verlangte.
Mit bebenden Fingern zog sie den Schlüssel aus ihrem Wams. Sie zitterte so stark, dass sie ihn fallen ließ. Mit einem dumpfen Laut prallte er auf den bemoosten Fel s boden.
»Gib doch Acht!«, keifte das Echo. »Los jetzt, heb ihn auf!«
Ailis bückte sich, nahm den Schlüssel widerstrebend zwischen Daumen und Zeig e finger. Sie ging in die Knie und suchte zwischen den Spitzen und Streben nach dem Vorhängeschloss.
Ein wildes Leuchten stand in den Augen des Mä d chens; beinahe täuschte es da r über hinweg, dass diese Augen längst tot waren.
»Weiter, weiter«, forderte es atemlos.
Ailis fand das Schloss und versuchte, den Schlüssel in die Öffnung zu schieben. Schmutz und Moos hatten sich an den Rändern verfangen, und sie stocherte eine ganze Weile lang mit dem Schlüsselbart darin herum, bis der Widerstand nachgab; ihr eigener dagegen wuchs mit j e dem Herzschlag.
»Passt er?«, fragte das Echo voller Ungeduld. »Sag schon, ob er passt!«
»Er passt«, erwiderte Ailis. »Aber das Schloss scheint zu klemmen.«
»Versuch es weiter.«
Sie drehte den Schlüssel ein Stück, dann verhakte er sich abermals. Sie fragte sich plötzlich, was geschehen würde, wenn er abbrach. Sie würde sterben, gewiss, aber was würde aus dem Echo werden? Ailis bezweifelte, dass es irgendeine andere Möglichkeit gab, dieses Schloss zu öffnen. Erland mochte es hergestellt haben, doch den Plan dafür hatte kein Menschenhirn erdacht.
Ja, dachte sie, wenn der Schlüssel zerbrach, war das Echo gefangen. Vielleicht für immer.
»Du bist doch ehrlich zu mir?« Plötzlich lag Argwohn in der Stimme des Mä d chens.
Der Gesang brandete abermals auf und vernebelte A i lis’ Denken. Es gab keinen Widerstand. All ihre Hof f nungen waren ein einziger großer Betrug.
Da – der Schlüssel ließ sich drehen! Nur ein Stück! Erst im letzten Augenblick bl o ckierte das Schloss erneut. Dort, wo sein Erfinder herkam, schien es so etwas wie Rost nicht zu geben. Der Mechanismus war zu filigran, um so vielen Wintern standzuhalten.
»Ailis!«, zischte die Kreatur. »Öffne – das – Schloss!«
»Es geht nicht.«
Ein schriller Ton stach wie eine Lanzenspitze in ihr Gehör. In ihrer Agonie ließ A i lis den Schlüssel los, sank zurück, schlug beide Hände vor die Ohren. Aber der Ton wurde nur noch stärker, fraß sich in ihr Gehirn wie eine glühende Klinge, mit der man eine Wunde ausbrennt. Sie schrie jetzt vor Pein und Verzweiflung, doch das G e räusch übertönte alles andere, ein kreischendes Fanal, das ihren ganzen Körper in Flammen setzte.
Dann verstummte der Ton.
Ailis konnte sich kaum bewegen. Alles tat weh, sogar das Denken. Unendlich lan g sam öffnete sie ihre Augen.
Jemand stand vor ihr. Starrte aus weit aufgerissenen, hellblauen Augen auf sie he r ab. Blickte dann hinüber zum Gitter. Sah das kleine Mädchen, das darunter auf dem Felsvorsprung saß und herzzerreißend weinte. Büc k te sich.
»Fee?«
Meine Stimme, dachte Ailis trübe. Das war meine Stimme!
Fee gab keine Antwort. Sie schaute nur wie versteinert auf das jammernde, blutve r krustete Kind im Schacht. Ailis’ Blick war zu verschwommen, als dass sie hätte erkennen können, was in Fee vorging. Aber selbst in i h rem Zustand war es nicht schwer, es sich auszumalen.
Mit einem aber hatte sie nicht gerechnet.
»Warst du das?«, flüsterte Fee und sah sie an.
Ailis öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber kein Ton drang aus ihrer Kehle. Sie versuchte, eine Hand zu heben, dann den Kopf zu schütteln – nichts gelang. Der Schmerzstoß, den das Echo ihr versetzt hatte, lähmte sie noch immer. Sie versuchte aufzustehen, doch der B o den schien unter ihr wegzukippen, sie verlor den Sinn für oben und unten, sackte zusammen. Es war zwecklos.
Eine einzige Hoffnung blieb ihr: Wenn das Echo auch Fee beeinflussen konnte, w a rum hatte es das dann nicht schon viel früher getan? Nein, dachte sie triumphierend, sie selbst, Ailis, musste das Opfer sein. Irgendetwas war an ihr,
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