Loreley
das die Kreatur reizte. Ihr Gehör! Das musste es sein. Ihre Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, die keiner sonst hören konnte.
Aber das Echo wollte nicht nur aus seinem Gefängnis befreit werden – es brauchte auch einen neuen Körper, um sich frei unter den Menschen zu bewegen. Ailis war seine bevorzugte Wahl, vielleicht weil es glaubte, dass es eine Art Verwandtschaft zwischen ihnen gab – Ailis’ Gehör und die Stimme des Echos, eine Verbindung, wie sie mach t voller kaum sein konnte.
Doch Ailis’ Widerwille war zu groß. Das Echo würde sie niemals völlig in Besitz nehmen können. Deshalb brauchte es jemanden, der leichter zu locken, leichter zu beherrschen war.
Ailis sah, wie Fee das Vorhängeschloss entdeckte – und den Schlüssel, der immer noch darin steckte.
»Fee!«, krächzte sie noch einmal. Vergeblich.
Das Echo hatte wieder zu singen begonnen. Ganz le i se, sanftmütig, fast wie ein Kinderlied.
Die Töne hatten keine Wirkung auf Ailis. Sie wusste, dass sie nicht ihr galten. Panik stieg in ihr auf. Sie span n te all ihre Muskeln an, bis die Schmerzen sie fast um den Verstand brachten, und langsam, sehr langsam ließ die Lähmung nach. Es gelang ihr, sich herumzuwälzen und mit unendlich schwerfälligen Bewegungen auf das Gitter und den Schlüssel zuzukriechen.
Fee war schneller. Sie machte einfach einen Schritt über sie hinweg und ging vor dem Schloss in die Hocke. Eine wabernde Unscharfe schien um ihr Gesicht und ihr Haar zu liegen, als stecke ihr Schädel in einer Luftblase.
Ailis streckte eine Hand nach ihr aus, bekam aber nur eine der Stahlspitzen zu fa s sen. Sie zog sich noch näher an das Gitter heran, bis sie durch die Stäbe und Stacheln das Gesicht des Mädchens erkennen konnte. Es starrte sie aus großen Augen an, und der Triumph darin war so überschwänglich und zugleich so kalt, dass Ailis ihren Blick rasch abwenden musste.
Fee! Ihr allein mussten Ailis’ Anstrengungen gelten, nicht diesem Ungeheuer im Schacht. Wieder und wieder musste sie sich das ins Gedächtnis rufen, als bedrohe sie von außerhalb des Türspalts, den der Gesang in ihr au f gestoßen hatte, eine Gefahr, die kaum geringer war als die Bosheit des Echos – völliges Vergessen!
Fee hatte eine Hand um den Schlüssel gelegt und ve r suchte, ihn zu drehen. Er klemmte noch immer im Schloss, und als ihr das klar wurde, begann sie wie eine Furie daran zu rütteln.
Er wird abbrechen!, durchfuhr es Ailis. Bitte, Gott, lass ihn abbrechen!
Der eingerostete Mechanismus gab nach, der Schlüssel drehte sich. Ein Schnappen, und der eiserne Bügel sprang auf. Fee zerrte daran. Das Schloss löste sich aus den M e tallschlaufen, die es bisher zusammengehalten hatte. Ein Knirschen und Wimmern ging durch das ganze Gitter, wie das Aufstöhnen von etwas Lebendigem, das in seiner Ruhe gestört wird. Es bewegte sich, verschob sich, schei n bar aus eigener Kraft, als hätte der Schlüssel viel mehr als nur den Mechanismus des Schlosses in Gang gesetzt.
Der Stahldorn, den Ailis in der Hand hielt, schien für einen Augenblick zu ergl ü hen, nicht sichtbar und doch so heiß, dass sie erschrocken die Finger zurückriss.
Fee erhob sich, packte willkürlich zwei der Stacheln und zog das Gitter daran zur Seite, als hätte es nur das Gewicht eines Reisigbündels.
Hilflos und voller Entsetzen sah Ailis zu, wie die Öf f nung über dem Schacht breiter und breiter wurde, ein Schlund mit Zähnen aus schwarzem Stahl. Dann lag der Abgrund offen vor ihr.
Das Mädchen auf dem Vorsprung streckte die Hand empor, und Fee ergriff sie. Die Kreatur schloss ihre A u gen, und dann war es, als würden ihre Lider nach innen gesaugt, als ob die Augäpfel dahinter verdampften und mit ihnen alles, was jemals in diesem Schädel gewesen war. Die Risse in der Blutkruste verästelten sich weiter, ein helles Spinnennetz auf dunklem Grund, das sich über den ganzen Körper der Kleinen ausbre i tete. Getrocknete Blutsplitter zerstäubten in alle Richtungen. Verklebte goldene Haa r strähnen lösten sich von der Kopfhaut, schwebten schaukelnd in die Tiefe. Die Wangen des Mädchens verzogen sich ebenso nach innen wie die A u genlider, ihre Lippen ve r dorrten, brachen auf. Ihr Hals schrumpfte zusammen, bis ihr Schädel nur noch auf e i nem vertrockneten Ast zu sitzen schien. Die kleinen A r me und Beine wurden faltig, spröde, von Spalten durc h zogen, und dann war kaum mehr zu erkennen, wo die Haut aufhörte und der zerschlissene Stoff des Kleides begann.
Ein
Weitere Kostenlose Bücher