Loretta Chase
»Ach ja, fast hatte ich es mir gedacht«, sagte
er. »Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Dürfte ich Sie noch bis zum Tor
begleiten?« Sie nickte und war erleichtert, weil die Sache so leicht aus
der Welt geschafft war und er es so gut aufgenommen hatte.
Er war eben
Soldat, wie sowohl er als auch Mr. Carsington so trefflich bemerkt hatten, und
trug es mit Fassung.
Sie ließ
ihr Pferd wieder antraben, und der Colonel ritt neben ihr einher.
»Vermutlich
haben Sie Dringliches auf Beechwood zu tun, wenn Sie so bald schon
zurückkehren«, sagte er.
»Es ist
sehr dringlich«, sagte sie. »Wie ich hörte, hat Pip – der Junge, der sich
um Lady Lithbys Hund kümmert – sich mit einem anderen Jungen geprügelt und soll
nun zurück ins Armenhaus geschickt werden. Ich bin mir nicht sicher, ob Mr.
Carsington schon davon weiß. Ich wollte ihm rasch Bescheid geben.«
»Ach ja,
der Lehrling, für den Mr. Carsington sich so sehr einsetzt«, bemerkte der
Colonel. »Weiß er, dass Pip Ihr Sohn ist?«
Darius saß
an seinem Schreibtisch und betrachtete Tyler aus schmalen Augen.
»Wenn das
irgendein fauler Trick ist, können Sie was erleben«, sagte er. »Ich lasse
mich nicht für dumm verkaufen.«
»Das ist
kein Trick, Sir«, versicherte ihm Tyler. »Pip ist ausgebüchst.«
»Das
verstehe ich nicht«, sagte Darius. »Warum sollte er?«
»Er hat den
Hund noch vor Mittag nach Lithby Hall zurückgebracht«, sagte Tyler.
»Danach
hätte er sofort wieder zu mir kommen und was für mich erledigen sollen. Das ist
jetzt zwei Stunden her, und er ist immer noch nicht zurück.«
»Ach, er
ist eben ein Junge«, meinte Darius. »Jungs lassen sich leicht mal
ablenken. Weshalb sollte er denn weglaufen?«
Tyler
scharrte mit den Füßen und vermied es, Darius anzusehen. »Na ja ... also
gestern, diese Prügelei mit Jowetts Jungen. Meine Frau hatte danach alle Hände
voll zu tun, Pips Jacke und seine Hose sauber zu kriegen und zu flicken. Sie
hat zu ihm gesagt, er wäre ein undankbarer Junge und hätte es verdient, zurück
ins Armenhaus geschickt zu werden.« Verlegen knautschte Ty ler die Kappe
in seinen Händen. »Das hat sie natürlich nicht so gemeint, Sir. Sie war einfach
nur wütend.«
Das konnte
Darius sich sehr gut vorstellen. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass Pip
so dumm war, deswegen wegzulaufen. Hatte Darius ihm denn nicht versprochen, ihm
zu helfen, sollte er seine Anstellung verlieren? Glaubte er etwa, dass Darius
sein Wort nicht halten würde?
Nun,
vielleicht. Er war eben ein Junge, und Jungs waren bekanntlich nicht die
logischsten aller Geschöpfe.
»Ich werde
ihn suchen«, versprach Darius. »Weit kann er nicht sein.«
Ihr Sohn.
Jahrelanger
Übung war es zu danken, dass Charlotte sich im Sattel halten konnte.
Jahre
eiserner Selbstdisziplin ließen sie die Contenance wahren, obwohl dieser
plötzliche, so gänzlich unerwartete Schlag sie heftig in Aufruhr versetzte.
Zuerst kam
die Kälte, eine Kälte, die so eisig und vernichtend war, dass sie einen kurzen
Moment lang dachte, ihr sei das Herz stehen geblieben und sie würde sterben.
»Sie
wussten es also nicht«, schloss Morrell. »Ich war mir nicht sicher. Es tut
mir leid, Sie derart aus der Fassung zu bringen, aber so ist es nun mal. Ich
habe es herausgefunden. Andere könnten es herausfinden.«
Mühsam fand
sie wieder zu Worten. »Das ist nicht Ihr Ernst«, sagte sie.
»Ich
wünschte, es wäre so«, sagte er. »Doch die Tatsachen lassen sich leider
nicht ändern. Philip Ogden wurde am 24. Mai des Jahres 1824 nahe Halifax
geboren, im West Riding von
Yorkshire.«
Halifax.
Der 24. Mai. Um vier Uhr morgens geboren. Binnen einer Stunde aus ihrem Leben
verschwunden.
»Sein
Vater war Captain George Blaine«, fuhr Colonel Morrell fort. »Der Captain wurde im November 1823
bei einem Duell getötet. Von der Mutter heißt es, sie sei im Kindbett
gestorben. Doch sie ist nicht gestorben, wenngleich sie lange Zeit danach sehr
krank war. Ihr Name war – ist – Lady Charlotte Hayward.«
Pip. Ihr
Sohn. Er lebte.
Sie hatte
es gewusst. Natürlich hatte sie es gewusst. Vom ersten Augenblick, da sie den
Jungen gesehen hatte. Tief, ganz tief in ihrem Herzen hatte sie es gewusst. Was
immer sie danach gedacht und sich eingeredet hatte, hatte sie sich nur
vorgemacht. So, wie sie allen etwas vormachte. Wenn sie versuchte, sich stets
an die Regeln zu halten. Vernünftig zu sein. Niemandem Kummer und Ungemach zu
bereiten. Sich der Liebe ihres Vaters und jener Lizzies
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