Loretta Chase
verboten, ihn zu sehen, mit ihm zu sprechen. Ich hatte
Angst. Wie ich bereits sagte, bin ich furchtbar feige. Mein ganzes Leben ist
eine einzige Lüge. Ein Kartenhaus,
das nun einzustürzen droht. Hätte ich mich früher der Wahrheit gestellt,
hätte ich die Wahrheit gesagt, wäre es längst geschehen.«
Darius sah
es auf einmal klar und deutlich vor sich: Der Skandal würde sie ihre Reputation
und allen Respekt verlieren lassen, Schande über ihre Familie bringen, ihrem
Vater ungeahnten Kummer bereiten. Nicht auszudenken.
»Du bist
nicht feige«, sagte er entschieden. »Du standest vor einer
Katastrophe.« »Ich hätte mich ihr stellen sollen«, sagte sie. »Nun
bin ich der Gnade Colonel Morrells ausgeliefert. Ich weiß nicht, was er vorhat.
Vielleicht ist er so wütend auf mich, dass er meinem Vater alles erzählt. Was
weiß ich schon über ihn? Und ich habe Angst, große Angst, dass er mir Pip
wegnimmt. Vielleicht hat er es ja längst getan.Vielleicht hat er ihn
freigekauft und fortgebracht.«
Darius
fluchte. Leise, doch sehr leidenschaftlich. »Niemand wird dir Pip nehmen«,
sagte er entschieden.
»Ich hatte
gehofft, dass du das sagen würdest«, sagte sie. »Morrell meinte, ich könne
nicht auf dich zählen, aber ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen
kann.« »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte dir viel Kummer
ersparen können, wäre ich gestern nicht so ein Idiot gewesen. Ich hatte mich
auch schon gefragt, ob du es wohl weißt – oder zumindest vermutest«, sagte
er. »Darüber wollte ich gestern mit dir reden, aber ich bin nicht gut darin,
heikle Themen taktvoll anzusprechen, und schließlich hat meine Unterhose auf
deinem Kopf mich auf andere Gedanken gebracht.«
Sie
versuchte zu lächeln. Ihre Lippen zitterten, und eine Träne lief ihr seitlich
an der Nase hinab. »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte sie. »Ich
wusste nur, dass ich Colonel Morrells Antrag unmöglich annehmen konnte. Ich
will dich. Und ich will meinen Sohn. Ich bin zu dir gekommen, weil ich nicht
weiterweiß. Keinen klaren Gedanken kann ich fassen. Du bist so ... so
vernünftig. Du gehst logisch an ein Problem heran. Du wirst alle Probleme
lösen.«
Und er
wusste, dass er alles für sie tun würde. Er liebte sie und würde sie
beschützen. Nie hätte er sich träumen lassen, dass es
sich so gut anfühlte, gebraucht zu werden und zu wissen, dass er fähig war, zu
tun, was getan werden musste.
»Natürlich
werde ich das«, sagte er. »Putz dir die Nase.«
Zuerst
sollten sie den Tylers einen Besuch abstatten, hatte Mr. Carsington gemeint. Er
hatte gerade nach Altrincham reiten wollen, als Charlotte eingetroffen war,
konnte er doch nicht glauben, dass Pip einfach so weglaufen würde, und
vermutete, dass etwas an der Sache faul war.
»Auch wage
ich zu bezweifeln, dass Mrs. Tyler Pip ohne Weiteres hergeben würde«,
sagte er, als sie aus dem Hof ritten. »Wenn sich zwei Gentlemen für den Jungen
interessierten, würde sie die beiden so lange gegeneinander ausspielen, bis sie
den Preis in schwindelerregende Höhen getrieben hätte. Sie scheint zu glauben,
dass alle Adeligen über unerschöpfliche Mittel verfügen.«
Doch
Charlotte und Mr. Carsington trafen Mrs. Tyler nicht zu Hause an. Von Annie,
der ältesten Tochter, erfuhren sie, dass ihre Mutter früh nach Manchester
aufgebrochen sei und erst morgen zurückkehren werde. Und ja, meinte das Mädchen auf
Nachfrage, ein Mann sei heute Morgen wegen Pip gekommen. Allerdings kein
Gentleman. Ein Mann mit Glatze, der recht lange mit ihrer Mutter geredet hatte.
Nein, Pip wäre noch nicht wieder aufgetaucht. Annie nahm jedoch an, dass der
kahlköpfige Mann nach ihm suchen wollte, aber sicher war sie sich da nicht.
»Erinnerst
du dich an den Namen des kahlköpfigen Mannes?«, fragte Charlotte. »Hieß er
zufällig Kenning?«
Sie wusste,
dass Kenning mit Morrell in der Armee gewesen war. Ihm würde der Colonel ein
Geheimnis anvertrauen. Oder einen zwielichtigen Plan.
Das Mädchen
dachte nach, zuckte dann die Schultern. »Kann sein, Euer Ladyschaft. Ich kann
mich nicht erinnern. Aber ich habe ihn schon ein paarmal gesehen. Lässt sich
oft unten in der Schenke blicken. Ich mag ihn nicht. Schnüffelt überall
herum.« Der Gedanke, dass Pip weggelaufen sein könnte, schien Annie noch
überhaupt nicht gekommen. »Aber wo soll er denn hin?«,
fragte sie. »Außerdem schreit Ma uns alle so an. Sie meint das längst nicht so
böse, wie es klingt. Sie sagt zwar immer, dass sie uns
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