Loretta Chase
Sie davon, wenn ich Sie der Unhöflichkeit
bezichtigte, weil Sie mir die Ohren haben abschwatzen lassen?« Sie warf
einen prüfenden Blick auf sein allzu ansehnliches Profil. »Seien Sie unbesorgt –
Ihre Ohren sitzen noch fest am Kopf.« Sie wünschte, sie wären von der
abstehenden Art. Sie wünschte, sie könnte irgendeinen Makel an ihm entdecken.
Das Schicksal war nicht fair. Alle bösen Männer sollten gezeichnet sein.
Vorzugsweise mit einem scharlachroten Mal auf der Stirn.
Aber nein,
er war makellos und ungezeichnet. Vergeblich hatte sie nach sichtbaren Mängeln
Ausschau gehalten. Viel wäre schon gewonnen, wenn sie nur aufhören könnte, ihn
andauernd anzuschauen ... und wenn sich ihr Atem jetzt endlich
beruhigte.
»Dann
müssen sie sich Mrs. Steepletons Anstrengungen zäh widersetzt haben«,
meinte er. »Sowie Sie uns einander vorgestellt hatten, begann sie zu reden und
hörte nicht mehr auf, bis zu Tisch gebeten wurde. Bei Tisch – und warum nur
überrascht mich das nicht? – fand ich mich abermals an ihrer Seite
wieder.« Charlotte hatte versucht, während des Dinners nicht in seine
Richtung zu schauen, was nicht ganz einfach gewesen war, da er ihr direkt
gegenübergesessen hatte. Einmal hatte sie seinen anklagenden Blick aufgefangen,
begleitet von einer Leidensmiene, die pflichtschuldigst verschwand, als Mrs.
Steepleton ihn abermals in Beschlag nahm. Fast hätte Charlotte lachen müssen
und konnte nur mit Mühe eine höflich unverbindliche Miene wahren. Sie hatte es
nahezu unmöglich gefunden, sich auf die Tischgespräche zu konzentrieren.
»Bei
Tisch«, fuhr er fort, »hat sie weitergeredet und erst aufgehört, als Lady
Lithby den Damen bedeutete, sich in den Salon zurückzuziehen.«
»Bedenken
Sie nur, wie viel Mühe Mrs. Steepleton Ihnen erspart hat«, sagte
Charlotte. »Sie wurden bestens unterhalten und mussten sich zu keiner Zeit
überlegen, was Sie Schlaues sagen sollten. Nichts wurde von Ihnen verlangt, als
der Anschein von Aufmerksamkeit.«
»Ich
überlege mir nicht, was ich Schlaues sagen soll, Lady Charlotte«,
erwiderte er. »Für gewöhnlich sage ich, was mir in den Sinn kommt, was oft
genug schlau ist und das Leben erheblich vereinfacht, wie ich finde.«
»Vereinfacht
für Sie vielleicht«, sagte sie. »Sie sind ein Mann.«
»Dass Ihnen
das schon aufgefallen ist«, sagte er.
»Männer
scheinen offene Worte unter ihresgleichen zu schätzen«, bemerkte sie.
»Leider ist mir aufgefallen, dass sie dieselben Eigenschaften bei Frauen wenig
lieben.«
»Mag sein,
dass engstirnige Männer es nicht schätzen.«
Charlotte
lächelte. Wenn er die offenen Worte einer Frau zu schätzen wusste, würde er
gleich seine helle Freude haben.
Sie waren
am Kamin angelangt – bei der Frau des Pfarrers.
Charlotte
bedachte Mrs. Badgeley, die das gefürchtete Mundwerk weit und breit besaß, mit
ihrem herzlichsten Lächeln.
»Ah. Lady
Charlotte, da sind Sie ja endlich«, empfing sie Mrs. Badgeley. Sie war
groß und stattlich, mit einer entsprechend weittragenden Stimme. »Ich hatte
gehofft, Sie wären nur vorübergehend abgelenkt und hätten mich nicht ganz
vergessen.« Sie musterte Mr.
Carsington. »Keine unbeträchtliche Ablenkung, wie ich gestehen muss.«
Charlotte
reichte ihr den Tee. »Mr. Carsington war so freundlich, mich zu
begleiten«, sagte sie. »Vielleicht können Sie sich schon denken, warum er
Ihre Bekanntschaft zu machen wünscht. Aufmerksam wie er ist, konnte ihm Ihr
Leiden nicht verborgen bleiben, und er würde gern sein profundes Wissen zur
Anwendung bringen, um Ihre Beschwerden zu lindern. Dazu braucht er indes genaue
Kenntnis Ihres Befindens. Am besten, Sie beschreiben ihm ganz ausführlich all
Ihre Symptome.«
Sie
strahlte Mr. Carsington an.
Er
blinzelte. Dann zogen sich seine goldbraunen Augen schmal zusammen.
»Sind Sie
denn auch Experte für Gelenkleiden, Mr. Carsington?«, fragte Mrs.
Badgeley. »Bei Menschen, meine ich?«
»Das Leiden
ist mir durchaus vertraut«, erwiderte er und wandte seine Aufmerksamkeit
der Pfarrersfrau zu, die das kleine Sofa fast gänzlich ausfüllte. Charlotte war
schon bei Tisch aufgefallen, dass seine Aufmerksamkeit sehr ausschließlich sein
konnte.
Wie sie ihm
bereits gesagt hatte, wurde bei Abendgesellschaften auf Lithby Hall nicht ganz
so viel auf Etikette gegeben. Beim Essen unterhielten sich die Gäste bisweilen
quer über den Tisch miteinander oder gar – wenn Papa und Lizzie einander etwas
mitteilen wollten – über die ganze Länge
Weitere Kostenlose Bücher