Loretta Chase
sah, war wüste
Arglist.
»Eine Dame
und ein Gentleman kennen einander nicht, ehe sie nicht einander vorgestellt
wurden«, sagte sie kühl. »Wenn sie einander nicht kennen, können sie
einander nicht begegnet sein. Da wir einander eben erst vorgestellt wurden,
können wir einander zuvor nicht begegnet sein.«
»Welch
perfide Logik«, sagte er.
»Es ist
eine Benimmregel«, sagte sie. »Das muss nicht logisch sein. Es könnte
sogar eine Regel geben, die ausschließt, dass Benimmregeln logisch sind.«
Seine Augen
funkelten. Zuerst meinte sie, dass es Belustigung sei, die sie darin sah, und
sie verwünschte sich von Herzen, denn sie wollte ihm nicht unterhaltsam
scheinen. Doch dann schweifte sein Blick von ihrem Gesicht hinab zu ihrem Hals
und weiter abwärts, verharrte kurz auf ihrem Dekollete, ehe er sich auf ihre
seidenen Schuhspitzen senkte – und so schnell wieder hinaufschoss, dass ihr
kaum Zeit blieb, wieder zu Atem zu kommen. Das ließ sich zwar ganz gut
verbergen, doch nicht der Rest.
Ihr Gesicht
glühte. Sie glühte am ganzen Leib. Und sie wusste, dass ihre verräterische
helle Haut daraus auch kein Geheimnis machte und sie an Hals, Schultern
und Dekollete mit einer feinen Röte überzog.
Es schien
ihn zu freuen, sie so aufgewühlt zu sehen.
Wut
schwelte in ihr.
Einmal,
bloß ein einziges Mal, wollte sie etwas tun, statt die ungenierte Musterung
eines Mannes nur stillschweigend zu erdulden.
Eine Dame
hatte so zu tun, als bemerke sie es nicht, wenn ein Mann sie mit seinen Blicken
auszog.
Fair war
das nicht.
Wenn ein
Mann sich brüskiert fühlte, stand es ihm zu, entsprechend zu reagieren. Ja, es
wurde von ihm erwartet, so zu reagieren.
Wäre sie
ein Mann, könnte sie ihn in das nächstbeste Möbel schubsen oder ihm ein blaues
Auge verpassen.
Aber sie
war kein Mann, und sie konnte auch schlecht einen herbeirufen, der die Sache
für sie erledigte. Eine Szene zu machen wäre nicht nur ruinös, sondern auch
lächerlich. Sie war kein kleines Kind. Sie war eine Frau von siebenundzwanzig
Jahren, die Tochter eines Adeligen, die bereits achtmal eine Saison absolviert
hatte und von der man erwarten konnte, dass sie sich zu beherrschen wusste. Es
wurde von ihr erwartet, heikle oder unerfreuliche Situationen mit Contenance
und Takt zu meistern.
Sie durfte
es ihm nicht mit Gleichem vergelten oder ihre Wut an ihm auslassen. Sie musste
so tun, als wäre nichts gewesen – und er wusste, dass sie das musste, dieser
Schuft.
Etwas
ratlos schmorte sie eine Weile vor sich hin.
Doch Lady
Charlotte Hayward war eine erstaunlich einfallsreiche junge Dame. Noch während
sie still vor sich hinschmorte, arbeitete ihr Verstand auf Hochtouren. Sie war
schon mit Dutzenden Männern fertiggeworden. Sie würde auch mit diesem
fertigwerden.
Kapitel 3
Ein
Fehler, dachte
Darius. Ein dummer, dummer Fehler. Er konnte kaum glauben, dass ihm das
passiert war. Finger weg von Jungfrauen.
Sein
ältester Bruder Benedict hatte ihm diese Regel im zarten Alter von fünfzehn
Jahren eingebläut.
Nachdem er
dem Alter des brüderlichen Einbläuens entwachsen war, hatte die Logik ihm diese
Regel bestätigt. Jungfrauen, so die Stimme der Logik, waren reine
Zeitverschwendung. Viel Mühe, wenig Lohn. War die Jungfer zudem noch die
Tochter eines Gentlemans, hatte man das fragliche Vergnügen mit Heirat zu
bezahlen.
Vergiss
sie, befahl die Logik. Sofort.
Darius
folgte der Logik stets ohne mit der Wimper zu zucken und ohne zu zögern.
Diesmal
jedoch zögerte er, und das aus drei Gründen.
Erstens:
Sie war ihm ein Rätsel.
Zweitens:
Wie in freier Wildbahn auch, fiel es einem gesund entwickelten Männchen äußerst
schwer, von einem weiblichen Prachtexemplar zu lassen – und sie war eines der
prächtigsten Prachtexemplare, das er seit Langem gesichtet hatte.
Drittens:
dieses Kleid. An ihr sah das jungfräuliche Weiß alles andere als jungfräulich
aus. Er sah keine Diana vor sich, sondern eine Venus. Keine jungfräuliche
Jägerin, sondern eine Liebesgöttin.
Dieser
Gedanke rief ihm das Gemälde in Erinnerung, das sich anzusehen, Benedict ihn
vor Jahren genötigt hatte. Es war dann auch das einzige Kunstwerk gewesen, das
ihm sehenswert
erschienen war auf ihrer endlosen, langweiligen Grand Tour. Für seinen
Geschmack hatten auf dieser Reise Kirchen eine zu bedeutende und Frauen eine zu
geringe Rolle gespielt.
Gemeint war
das berühmte Botticelli-Gemälde der Venus, die nackt auf einer überdimensioniert
geratenen Meeresmuschel
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