Loretta Chase
aber
nicht. Vergiss ihn.
Sie blickte
auf ihre Hände hinab. Sie zitterten wieder.
Es hatte
ihrer äußersten Willensanstrengung bedurft, nicht am ganzen Leib zu zittern,
während sie sich gezwungen hatte, eine Weile mit Mr. Carsington in dem Zimmer
zu bleiben. Sie war dort geblieben und hatte sich bemüht, ruhig und klar zu
sprechen, weil sie sonst geradewegs losgerannt wäre, um den Jungen zu suchen.
Deshalb war sie dort geblieben und hatte sich zum Innehalten und zur Ruhe
gezwungen.
Und bei
niemand anderem als Mr. Carsington wäre ihr das gelungen. Jeden anderen würde sie
ignoriert haben.
Mr.
Carsington konnte sie nicht ignorieren. Er brachte sie auf andere Gedanken –
oder zumindest einen Teil ihrer Gedanken die sich sonst immerzu um den Jungen
gedreht hätten, und er regte sie auf und verwirrte sie, aber sorgte wenigstens
dafür, dass sie mit beiden Beinen auf dem. Boden blieb. Wortwörtlich.
Er hatte
ihre Gedanken wieder auf die Truhe samt ihrer seltsamen Erinnerungsstücke
gelenkt. Charlotte wurde das Gefühl nicht los, dass wirklich eine Geschichte
dahintersteckte. Irgendetwas musste es bedeuten. Aber sie wusste so wenig' über
Lady Margaret – nur, dass sie eine der zahlreichen Töchter des Earl of Wilmouth
gewesen war, der sein riesiges Vermögen verspielt hatte, und dass sie Sir
William Andover geheiratet hatte, der aus einer alten und reichen Familie aus
Cheshire stammte.
Charlotte
hatte sich an alle wahren Begebenheiten und Gerüchte zu erinnern versucht, die
man sich über die verrückte Lady Margaret erzählte. Sie hätte bleiben und Mr.
Carsington berichten können, was sie wusste. Vielleicht wären sie ja zusammen
hinter das Geheimnis gekommen.
Doch es war
ihr nicht möglich gewesen – nicht so unmittelbar nachdem sie den Jungen gesehen
hatte. So groß Charlottes Selbstbeherrschung auch war, das überstieg dann doch
ihre Kräfte. Hätten sie über Lady Margarets Geheimnis spekuliert, wäre sie dem
ihren möglicherweise zu nah gekommen.
Mr.
Carsington war in vielerlei Hinsicht auf typisch männliche Weise
begriffsstutzig. Manchmal jedoch konnte er erstaunlich aufmerksam und
scharfsichtig sein. Weshalb sie auch nur so lange bei ihm hatte bleiben wollen,
bis sie sich sicher sein konnte, dass sie dem Jungen nicht mehr hinterherrennen
würde.
Such nicht
nach ihm, sagte sie sich. Es wird nichts als Kummer bringen.
Und so lief
sie weiter den Gang hinab und die Treppe hinunter und sah sich nirgends und
nach niemandem um, bis sie das Haus verließ.
Obwohl die
Truhe einen gewiss interessanten Einblick in lang vergangene Zeiten gewährte,
vermochte sie Darius doch nicht von Lady Charlotte abzulenken. Noch
hartnäckiger jedoch erwiesen sich der Junge Pip und dessen über die Maßen
besorgte Miene. Das wollte ihm überhaupt nicht mehr aus dem Sinn.
Dutzende
Leute konnten Schuld daran haben, dass der Eimer mitten auf dem Flur stehen
geblieben war. Im Haus wimmelte es ja von Arbeitern, überall krabbelten und
krochen sie herum, sägten und schraubten, hobelten und hämmerten. Dienstboten
huschten emsig umher, schufteten hier und werkelten da. Jeder von ihnen hätte
einen Eimer Wasser mitten im Weg abstellen und vergessen können. Und jeder von
ihnen hätte die Schuld vermutlich einem anderen in die Schuhe geschoben,
beispielsweise einem jungen Lehrling. So gesehen würde wohl jeder junge
Lehrling in einem solchem Fall besorgt dreingeschaut haben, da aller
Wahrscheinlichkeit er die Prügel für das Versehen würde einstecken müssen. Auch
Darius hatte in jungen Jahren so einiges an Schlägen einstecken müssen – und
wüsste nicht, dass es ihm geschadet hatte. Allerdings hatte er sich seine
Strafe stets verdient gehabt. Soweit er das beurteilen konnte, hätte Pip die
Strafe nicht verdient. Und doch hatte der Junge derart verängstigt gewirkt,
dass dies nur einen Schluss zuließ: Er musste schon zu häufig und vermutlich
meist zu Unrecht geschlagen
worden sein.
Dies gab
Darius genügend Anlass zur Sorge, um das Geheimnis der Truhe auf sich beruhen
zu lassen und den Meister des Jungen aufzusuchen.
Da im
großen Schlafgemach ein halbes Dutzend Arbeiter am Werke waren, beorderte
Darius Tyler in sein Arbeitszimmer und bediente sich dort schamlos des
einschüchternden Gebarens seines Vaters. Er saß am Schreibtisch, einen Brief
vor sich, und sah den Meister unter düster gerunzelten Brauen hervor an.
»Sie
wünschten mich zu sprechen, Sir?«, sagte Tyler und hielt seine Kappe mit
beiden Händen
Weitere Kostenlose Bücher