Loretta Chase
sprang Daisy bei. »Und sie ist ein guter Hund,
Sir«, sagte er. »Als ich ,Komm her' gesagt habe, war sie sofort ganz
folgsam. Nicht wahr, mein Mädchen?« Er bückte sich und zauste Daisy
beherzt den Kopf, die sich die Streicheleinheiten mit hängender Zunge gefallen
ließ und beglückt sabberte.
Darius
erinnerte sich daran, was Tyler ihm erzählt hatte. »Da Lady Lithby gerade
beschäftigt ist und du deinem Meister nicht in die Quere kommen sollst«,
sagte er zu dem Jungen, »könntest du dich nützlich machen, indem du mit Daisy
rausgehst, damit sie sich ein bisschen austoben kann. Ich wollte gerade hinüber
zu den Stallungen. Kommt ihr beiden doch einfach mit.«
Charlottes
unruhiges Umherirren führte sie zu Bechwoods Stallungen. Hier war noch viel zu
tun. Das ausgetretene Pflaster wurde gerade erneuert, und danach waren die
Fensterläden und Boxen an der Reihe. Das alte Gebäude würde bald in altem Glanz
erstrahlen, und die Pferde machten schon jetzt einen gepflegten Eindruck. Doch
sie war nicht gekommen, um den Fortgang der Renovierungsarbeiten zu überwachen.
Sie war
wegen der Pferde gekommen.
Wenn man
sich beruhigen wolle, so Papa, solle man sich in die Gesellschaft von Pferden
begeben. Schweine seien gut zum Nachdenken und um Wichtiges zu besprechen, aber
ein Pferd war das beste Beruhigungsmittel, das die Natur zu bieten hatte.
Manche behaupteten, das liege an ihren großen, sanften Augen, die eine unglaubliche
Ruhe ausstrahlten – was ihr Vater allerdings bezweifelte. Doch woran es auch
liegen mochte, die Wirkung ließ sich nicht leugnen, und das allein zählte.
Da von Mr.
Carsingtons Stallmeister weit und breit nichts zu sehen war, kam Charlotte in
den Genuss, die beruhigende Wirkung ganz für sich allein zu haben. Sie lehnte
am Stalltor, atmete den vertrauten, erdig warmen Geruch ein und wartete darauf,
dass der Pferdezauber ihren aufgewühlten Geist zur Ruhe brachte. Gerade begann
sie sich tatsächlich ein wenig zu beruhigen, als sie Mr. Carsingtons Stimme
hörte – und kurz darauf die eines Jungen. Des Jungen, unverkennbar. Es gab nur
einen Zugang zu den Stallungen. Wenn sie jetzt flüchtete, würde sie ihnen
geradewegs in die Arme laufen. Also huschte sie rasch in das dämmerige Gebäude,
drängte sich dicht an die Wand und hoffte, dass die beiden an ihr
vorübergingen, ohne sie zu bemerken.
Die Stimmen
kamen immer näher, waren nun schon beim Tor. Charlotte schlich lautlos an der
Wand entlang und steuerte auf eine dunkle Ecke zu, wo sie sich verstecken
wollte.
»Wie ich
höre, bist du zur Schule gegangen«, vernahm sie Mr. Carsingtons Stimme,
gefährlich nah.
»Ja, Sir.
Aber nicht auf dem Internat. Mr. Welton, der Gentleman, der
mich bei sich aufgenommen hatte, nachdem meine Eltern gestorben waren, hat
Schüler ins Haus genommen und mich mit ihnen zusammen unterrichtet.«
»Er muss
ein sehr gebildeter Gentleman gewesen sein«, meinte Mr. Carsington.
»Wahrscheinlich hast du es von ihm gelernt, dich so gut auszudrücken.«
»Mrs. Tyler
sagt immer, das wird mir nichts nutzen, so zu reden wie die feinen Leute«,
erwiderte der Junge. »Sie sagt, ich soll mir nichts darauf einbilden und
glauben, ich wäre was Besseres. Worauf ich zu ihr gesagt habe: ,Aber ich war im
Armenhaus, Ma'am, da war niemand etwas Besseres.' Und dass ich ebenso froh und
dankbar wäre wie alle anderen auch, da entflohen zu sein und Arbeit gefunden zu
haben.«
Charlotte
presste sich die Faust an den Mund, um nicht aufzuschreien. Im Armenhaus?
Dieses Kind – nicht ihr Kind, nein, das konnte nicht sein, aber trotzdem dieser
unschuldige Junge war mit all den Elenden und Trinkern im Armenhaus gelandet?
»Aber da
warst du ja nicht lange, oder?«, fragte Mr. Carsington.
Schon ein
einziger Augenblick wäre zu lange, hätte sie am liebsten gerufen. Doch sie
zwang sich zur Ruhe, stand still und reglos und schaute starr geradeaus.
»Mir kam es
ganz schön lang vor«, sagte der Junge. »Aber es stimmt schon, die meisten
bleiben länger da als ich. Mr. Welton ist im Winter gestorben, und im Frühling
hat Mr. Tyler mich zu sich genommen.«
»Selbst um
die paar Monate, die du dort warst, ist es schade«, sagte Mr. Carsington.
»Aber wahrscheinlich gab es niemanden, der dich nach Mr. Weltons Tod aufnehmen
konnte, und es blieb nur die Wahl zwischen Armenhaus und Waisenhaus.« »Ich
hab gehört, dass manche von denen noch schlimmer sein sollen als das
Armenhaus«, sagte Pip schaudernd. »Schlimmer als Gefängnis. Ich habe
wirklich
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