Loretta Chase
junger
Mann kam ins Zimmer geeilt. Er war kaum größer als sie und um einiges jünger –
sie schätzte ihn auf Anfang zwanzig. Er sah gut aus und war gut gekleidet,
wenngleich offensichtlich war, dass er seine vornehmen Kleider in großer Hast
angelegt hatte. Wahrscheinlich war er eben erst aufgestanden.
Er – oder sein Kammerdiener – waren zumindest noch nicht dazu gekommen, sein
volles braunes Haar zu bürsten. Seine Augen waren von demselben strahlenden
Blau wie Olivias Augen.
»Mrs.
Wingate?«, fragte er. »Ich bin Peter DeLucey. Ich sah Sie die Auffahrt
hinaufreiten. Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen. Sehr
dringliche Angelegenheit, meinte Keble. Ich hoffe ...« Er verstummte, und
sein Blick schweifte von ihrem Gesicht zu etwas, das sich rechts hinter ihrer
Schulter befand.
Sie sah
kurz hinter sich, stutzte, und drehte sich dann ganz um. Hinter ihr hing das
Bildnis eines Marineoffiziers mit langer Perücke, wie sie Anfang des vorigen
Jahrhunderts beliebt gewesen war. Er hätte ihr Vater sein können – oder sie
selbst, wenn seine Perücke schwarzhaarig gewesen wäre.
»Das kann
unmöglich Urgroßvater Edmund sein«, meinte sie. »Mir wurde gesagt, all
seine Bildnisse wären verbrannt worden.«
Als sie
sich wieder umdrehte, fuhr der junge Mann sich mit der Hand durchs Haar. »Was
Sie nicht sagen«, sagte er.
»Ich bin
Bathsheba Wingate«, stellte sie noch einmal klar.
Keiner der
altehrwürdigen Ahnen fiel aus den güldenen Rahmen, die Decke stürzte nicht über
ihr ein und auch der Boden tat sich nicht unter ihr auf, um den Teufel emporfahren
zu lassen und Mr. DeLucey mit sich hinab in den Höllenschlund zu ziehen.
Aber Peter
DeLucey sah so drein, als wäre genau das geschehen.
Schließlich
brachte er ein weiteres »Was Sie nicht sagen« hervor.
Mit knapper
Geste brachte sie ihn zum Schweigen. »Sei's drum«, sagte sie. »Wir haben
ohnehin keine Zeit für Familienerinnerungen. Meine ungeheuerliche Tochter ist
mit Lord Athertons einzigem Sohn und Erben davongelaufen. Sie hat ihn in einen
aberwitzigen Plan mit hineingezogen, Edmund DeLuceys legendären Schatz zu
finden, den sie am Fuße von Throgmortons Mausoleum vergraben glaubt.«
»Sch...schätz«, sagte er. »Mauso...«
»Ich bin
den beiden seit Freitagnachmittag auf den Fersen«, unterbrach sie ihn
ungeduldig, »aber die Gören sind mir stets entwischt. Throgmorton ist ein sehr
großes Anwesen. Es lässt sich kaum absehen, wie oder wo sie sich Zugang zum
Park verschaffen werden. Und wenn sie erst mal drin sind, haben sie gewiss
zahlreiche Möglichkeiten, sich zu verstecken.«
»Was Sie
nicht sagen«, sagte er. »Ich kann es noch immer kaum begreifen. Ihre
Tochter ist mit Athertons Sohn durchgebrannt?«
»Er ist
dreizehn«, stellte sie enerviert klar. »Olivia ist zwölf. Die beiden sind
nicht durchgebrannt. Sie sind Kinder. Passen Sie mal auf, ich habe einen Plan,
wie wir die beiden erwischen können, aber dazu bräuchte ich Ihre Hilfe.«
Just in
diesem Augenblick hörte sie draußen Hufgetrappel und Kutschenräder. Bathsheba
holte tief Luft. Rathbourne konnte es nicht sein. Er konnte sie frühestens in
ein paar Stunden aufspüren, wenn überhaupt. Dafür hatte sie gesorgt – und auch
dafür, dass er ziemlich böse auf sie sein würde, wenn er sie denn finden
sollte. Peter DeLucey eilte zur Tür und lauschte. »Oh, nun können wir was
erleben«, meinte er. »Die Familie ist von der Kirche zurück.«
Eine Stunde später
Wenn er sie erwischte, würde er ihr den
Hals umdrehen, schwor sich Benedict. Die Nachwirkungen des
alkoholgeschwängerten Abends waren wenig dazu angetan, seine Laune zu bessern.
Sein Kopf war ein Amboss, auf den Hephaistos, Schmied von Zeus' Donnerkeilen,
mit seinem riesigen Hammer einschlug.
Hochgradig
verstimmt steuerte er den Dienstboteneingang an.
Er hätte
auch zum Vordereingang gehen und sagen können, wer er war ... wenn er sich
hochkant hinauswerfen und den Spott von ein paar Bauernflegeln über sich
ergehen lassen wollte, während er vor den Toren Throgmortons auf seinem
Allerwertesten landete.
Er hatte
sich sowohl Geld als auch Kleidung von Thomas leihen müssen. Die Kleider
passten nicht, denn Thomas war kleiner als er, aber dafür breiter. Dank seiner beschränkten
finanziellen Mittel hatte Benedict zudem einen langen, zermürbenden Ritt auf
einem grobschlächtigen Ackergaul zu ertragen gehabt, der seinem schmerzenden
Kopf nicht gerade zuträglich gewesen war.
Um das Maß
noch
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