Lorettas letzter Vorhang
neunzehn Gänge serviert worden, und niemand hatte sich darüber gewundert. Nur der Gesandte aus Zürich, doch der war Calvinist und an so verderblichen Überfluß nicht gewöhnt. Aber als höflicher Mann hatte er bis zum sechzehnten Gang durchgehalten, was er mit einer ganzen Woche seelischer wie körperlicher Unpäßlichkeit büßen mußte. Heute gab es nur vier Gänge, wenn auch bei jedem mehrere Speisen zur Auswahl standen. Während des ersten wurde nur wenig geredet, und das vor allem über die exzellente Qualität der Krebse mit Steinpilzen in Rahm, mit Kerbel, Dill, Kümmel und Petersilie gewürzt, und über die Aal- und die Fasanenpastete, mit Thymian, Rosmarin und Schalotten verknetet. Die Ochsenfleischsuppe mit englischem Sellerie wurde nur von dem französischen Gesandten gelobt, der aus seiner Heimat solcherart dünnflüssige Vorspeisen schon gewohnt war.
Als der zweite Gang, mit Austern gefüllte Rebhühner und Kalbfleischragout mit Artischockenböden, Pilzen und viel Estragon, serviert wurde, wandten sich die Gespräche anderen Themen zu, aber Rosina, in ständigem Kampf mit den schweren Platten und Schüsseln und ihrer zu großen Haube, konnte nie lange genug bei den Gästen stehenbleiben, um mehr als ein paar Sätze zu verstehen. Professor Büsch debattierte mit Bocholt und zwei weiteren weitgereistenKaufleuten über die Forschungsreise Carsten Niebuhrs, der auf dem Heimweg nach Kopenhagen nach seinem immerhin sechs Jahre dauernden Abenteuer kürzlich in Hamburg Station gemacht hatte. Er hatte Ägypten, die Westküste des Osmanischen Reiches, Persien und die geheimnisvolle arabische Halbinsel bereist, war schließlich bis zum ostindischen Bombay gesegelt, das ihn, so hatte man in den Kaffeehäusern gehört, besonders beeindruckt hatte. Ob er auch, wie der dänische Heringshändler behauptete, auf seiner Rückreise tatsächlich den Tigris befahren hatte, blieb leider ungeklärt, aber gewiß, versicherte Büsch, werde er bald ein Buch über seine Abenteuer schreiben. Und auf alle Fälle, sagte schließlich Bocholt, habe er Karten und viele Neuigkeiten von der geheimnisvollen Stadt Sana mit ihren ganz aus Lehm gebauten und mit zahllosen Türmchen und Zinnen bestückten, auch bemalten Wohntürmen mitgebracht, und das könne nur gut für den Handel sein. Wenn er persönlich auch finde, daß sechs Jahre doch eine lange Zeit seien, und es dauere gewiß noch sehr viel länger, bis die Kosten für so ein Unternehmen wieder hereinkämen. Die habe doch der dänische König gehabt, warf ein beleibter Herr, einer dieser kleineren Kattunmanufakteure, der dem Gespräch von der anderen Seite des Tisches aufmerksam zugehört hatte, vergnügt ein, und Bocholt knurrte: «Genau. Und wem hat er sie abgepreßt? Uns Hamburgern!»
Dagegen war nichts zu sagen, aber alle fanden doch, daß Niebuhr, der schon als verschollen gegolten hatte, wieder zurück sei, grenze an ein Wunder.
Nicht minder lebhaft, allerdings ein wenig lauter ging es an der oberen rechten Ecke der langen Tafel zu. Dort saß Lessing neben Augusta, die beiden hatten sich im vorigen Sommer am Brunnen in Bad Pyrmont kennengelernt undmußten nun unbedingt eine Debatte, die sie damals nicht beenden konnten, fortsetzen. Es ging um William Shakespeare, den Augusta für einen recht groben Dichter hielt, während er für Lessing der größte aller Zeiten war.
«Der größte, meine verehrte Madame Kjellerup. Und wenn auch unsere Theaterdirektoren endlich begreifen,
wie
groß, wenn sie seine Tragödien und Komödien endlich auch auf die deutschen Bühnen bringen, dann wird unser Theater sprießen und blühen wie Eure Alsterwiesen im Mai.»
Augusta sah Lessing zweifelnd an. Obwohl sie genau wußte, daß er auch Trinklieder verfaßte, die keinesfalls für den Salon, sondern höchstens für den Weinkeller geeignet waren, hielt sie ihn für einen äußerst klugen Mann von hoher Bildung und exzellentem Geschmack. Und nun trat er für diese gotischen Schauerstücke ein?
«Auch wenn Ihr es gerne abstreitet, so seid Ihr doch ein Dichter von hohem Rang und versteht Euch sehr viel besser auf diese Dinge als ich», sagte sie schließlich zögernd. «Es ist auch schon etliche Jahre her, daß ich eines der Stücke sah, von dem es hieß, es stamme aus der Feder dieses Dichters, und ich muß sagen, lieber Lessing, etwas Gröberes und Blutigeres sah ich nie. Ich denke nicht …»
«Ah, Madame, nun klärt sich unser Disput. Ihr sagt es selbst: von dem es
hieß
, es stamme aus
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