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Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Stutzuhr auf dem kleinen Tisch bei den Fenstern. Ein elegantes Stück, das er sich im vorigen Jahr zur Entschädigung für die lange, beschwerliche Reise aus Augsburg mitgebracht hatte. Sie steckte in einem polierten Nußbaumgehäuse, reich geschmückt mit Intarsien aus blankem Zinn und Messing. Die Ranken in den Ecken und im hübsch geschwungenenSockel waren vergoldet, und das Ziffernblatt zeigte nicht nur die Zeit, sondern auch das Datum und die Mondphasen. In diesem Moment konnte er sich allerdings kaum daran erfreuen, dazu war es zu spät. Bei den Herrmanns würde man sich gewiß wundern, wo er so lange blieb. Aber die Sache mit dem jungen Blank hatte ihm heute plötzlich keine Ruhe mehr gelassen, er wollte erst selbst mit Lukas sprechen, bevor er sich dem Vergnügen des Herrmannsschen Musikabends und vor allem den gewiß äußerst delikaten Speisen von Herrmanns’ Köchin hingab. Er würde natürlich das Konzert versäumen, für gewöhnlich fand es zu Beginn eines solchen Abends statt, aber dann konnten ihm das Gefiedel und Gesinge auch nicht den Appetit verderben. Er hoffte, daß Herrmanns sich nicht ausgerechnet heute der neuen Sitte anschloß, das Essen vor der Musik zu servieren.
    So verstockt konnte der junge Blank doch gar nicht sein, daß er der Autorität eines Senators widerstand und auch ihm nicht erzählte, was es mit dieser seltsamen Geschichte von Schwarzbachs Musterbuch auf sich hatte. Und, zum Teufel, wenn er tatsächlich auch noch diese Kokotte umgebracht hatte, aus Leidenschaft oder warum auch immer, war er natürlich nicht zu retten, aber vielleicht würde ihm doch irgend etwas einfallen.
    Van Witten schätzte das Henken nicht. Gewiß, der Galgen war nützlich und in vielen Fällen auch unausweichlich. Tatsächlich wurde auch längst nicht mehr so schnell und oft gehenkt wie in seiner Jugend. Wer gebrandmarkt, an den Pranger gestellt, gepeitscht und dann aus der Stadt verwiesen wurde, war ja kaum besser dran, vor allem im Winter. Zwei der diebischen Weiber, die im letzten Januar dieses Schicksal getroffen hatte, waren schon wenige Tage später nur ein paar Meilen vor der Stadt erfroren aufgefundenworden. Eine mit ihrem Kind. Warum hatte sie es nicht im Waisenhaus an den Kajen abgegeben? So ein Los war auch nicht angenehm, aber immer noch besser, als vor einer grölenden Meute am Strick zu baumeln.
    Je länger van Witten in seinem Amt war, um so unangemessener erschien es ihm, Diebe und Betrüger mit dem Tode zu strafen. Obwohl die Kirche nichts dagegen einzuwenden hatte, fand er es nicht wirklich christlich und schon gar nicht vernünftig, denn es war nicht einmal ökonomisch. Zu dumm, daß Hamburg keine Kolonien hatte. Er wollte nun endlich dem Rat vorschlagen, deshalb in London vorzusprechen. In den amerikanischen Kolonien der Engländer herrschte trotz der Unmengen an schwarzen Sklaven immer Mangel an Arbeitern, und in den nördlichen Regionen war, wie man hörte, das Klima auch recht bekömmlich. Die Besiedlung dehnte sich dort rasch aus, vor allem nach Westen, der Kontinent war wohl endlos. Die Engländer schickten eine ganze Menge ihrer Verurteilten dorthin, aber auch auf ihre großen Plantagen nach dem südlichen Virginia, Männer, Frauen und Kinder. In den letzten Jahren begnadigten sie auch immer mehr zum Strick Verurteilte zum Sklavendienst in den Kolonien. Und, auch das hörte man, ein paar Schiffseigner verdienten sich eine goldene Nase an der Deportation über den Ozean. Es kamen zwar nicht alle lebend drüben an, aber wohl doch genug, um das Geschäft lohnen zu lassen. In den Regionen weiter westlich, an der Grenze aller Zivilisation, herrschte auch Mangel an Frauen. Und hier im Werk- und Zuchthaus und im Spinnhaus drängten sich die Diebinnen und Huren. Einer wie der junge Blank, aus gutem Hause und im Kern gewiß nicht durch und durch schlecht, könnte in den Kolonien nach einer angemessenen Zeit der Fron – von etwa sieben oder zehn Jahren – sogar eine neueChance finden. Er war stark und gesund, die Arbeit würde ihn nicht umbringen, sondern seine Seele läutern.
    Natürlich durfte so einer nie zurückkehren, und war das nicht schon die schlimmste aller Strafen? Verbannt und für immer getrennt von allen, die er kannte, von allem, was er liebte, und das ganz allein? Jedenfalls wollte van Witten den jungen Mann noch einmal selbst befragen, und ganz gewiß wollte er dazu nicht in dieses üble Loch am Berg gehen. Also hatte er zwei Männer von der Wache, besonders

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