Lorettas letzter Vorhang
Kutsche gereicht, und Blohm war wieder einmal froh, daß sein Herr damals doch noch klug geworden war und Madame Agnes nicht geheiratet hatte.
DIENSTAG, DEN 6. OKTOBER, NACHTS
«Pssst!» Rosina beugte sich hastig vor und legte Loretta eine Hand auf den Mund. «Nicht so laut», flüsterte sie, «du bist hier nicht auf der Bühne. Es reicht doch, wenn ich dich verstehe.»
Loretta hob entschuldigend die Hände, und Rosina gab ihren Mund wieder frei. «Die Krögerin hat es vorhin ganz ernst gemeint: Noch einmal so ein Lärm, und du mußt deinen Reisekorb packen und woanders unterschlüpfen.»
Loretta verdrehte ungeduldig die Augen und seufzte: «Ich versuche es ja, aber diese Szene ist so erregend, da vergesse ich einfach, daß ich nur flüstern darf. Bedenke doch: Florinde hat ihren Liebsten verloren, sie hält ihn für tot und glaubt, daß sie ihn nie mehr wiedersehen wird. Und da soll sie flüstern?»
Sie warf das Textheft auf den Tisch und ließ sich auf ihr Bett fallen. «Wie soll ich bis übermorgen den ganzen Text können, wenn ich nur in der Nacht Zeit zum Lernen habe und dann auch noch flüstern muß? Nicht nur der Text muß gelernt werden, auch die Bewegungen, der Ausdruck der Gefühle. Da kann man nicht ständig bedenken, ob Madame Krögers Schlaf gestört wird.»
Rosina schwieg. Sie verstand Loretta nur zu gut. In eine Rolle zu schlüpfen und gleichzeitig darauf zu achten, niemanden zu stören, war wie ein Salto vorwärts und rückwärtszugleich. Aber es nützte nichts. Es hatte sie genug Mühe gekostet, die Wirtin nicht nur zu überreden, Loretta als zweite Mieterin in ihr Zimmer aufzunehmen, sondern auch mit der üblichen Vorauszahlung eine Woche zu warten. Dann, hatte Loretta beteuert, sei ihr kleiner finanzieller Engpaß vorbei. Rosina hatte für sie gebürgt und nicht gefragt, was in einer Woche geschehen sollte. Wahrscheinlich hatte Monsieur Seyler dann genug Geld aufgetrieben, um die überfälligen Gagen zu bezahlen. Jedenfalls hoffte sie das. Auch ihr Geldbeutel war inzwischen so gut wie leer.
Bis vor drei Tagen hatte Loretta in einem Zimmer hinter dem Kalkhof gewohnt. Natürlich war es ärgerlich, daß die Wirtin sie so plötzlich vor die Tür gesetzt hatte, aber das Zimmer, erzählte sie Rosina, war sowieso eine Schande. Was half die hübscheste Aussicht auf die Alster und über die Brücke beim Lombardhaus, wenn die Wände feucht und die Fenster so undicht waren, daß die Gardine beim kleinsten Wind quer im Zimmer stand? Aber es war eine Frechheit, sie hinauszuwerfen, nur weil Lukas am Abend zuvor in ihrem Zimmer gewesen war, und selbstverständlich hatte sie nicht vorgehabt, ihn die ganze Nacht – das war ja absurd. Als ob sie nicht ihrem guten Ruf verpflichtet wäre. Aber wo sollte man denn private Dinge besprechen, wenn es draußen ständig stürmte und regnete?
Rosina fielen dazu eine ganze Reihe von honorigen Wirtshäusern ein, die auch für Lorettas Ruf nicht von Nachteil gewesen wären, der
Bremer Schlüssel
zum Beispiel, aber das tat nun nichts zur Sache. Sie mochte Loretta, wie sie war, vielleicht, weil sie in ihrer Quirligkeit, ihrem Witz und ihrem Hang zum Melodram bei jeder Gelegenheit an Jean, den Prinzipal der Beckerschen Komödiantengesellschaft, erinnerte. Loretta war ihr von der ersten Begegnung an vertraut erschienen. Sie mischte zwar munter und mit offensichtlichem Genuß in den ewigen Streitereien im Theater am Gänsemarkt mit, aber wenn sie sich auch auf die Finessen des Konkurrierens gut verstand, kämpfte sie doch immer mit offenem Visier. Jedenfalls fast immer, und in Rosina, dem neuesten Mitglied im Ensemble, sah sie eher eine Verbündete als eine Konkurrentin.
Daß allerdings Madame Hensel Mademoiselle Grelots Konkurrenz zu Recht fürchtete, hatte Rosina in den letzten beiden Stunden erfahren. Gewiß war Lorettas Talent eine übergroße Gabe der Natur. Doch auch wenn sie in den letzten Monaten nur kleine Rollen spielen durfte, hatte sie doch bei jeder Vorstellung in den Kulissen gestanden, den Großen ihrer Profession zugesehen und diese Abende als Lehrzeit gut genutzt.
Rosina trat ans Fenster, schob den Vorhang ein wenig zur Seite und sah über den Hof hinunter auf die Straße. Die Fuhlentwiete lag schon seit Stunden im Dunkel, gerade kam der halbvolle Mond hinter einer dunklen Wolkenwand hervor und malte scharfe Schatten. Die Neustadt schlief. Hinter keinem der vielen Fenster flackerte noch eine Kerze. Nur eine weißgefleckte Katze schlich über das
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