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Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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hölzerne Schindeldach des Schuppens neben der Bürstenbinderei. Ein vergessenes Stück Sackleinen, was sonst konnte es sein, bewegte sich für einen Moment im Nachtwind wie eine menschliche Gestalt. Rosina fröstelte und zog ihr wollenes Schultertuch fester, aber sie war nur müde, dagegen half auch ein Tuch nicht.
    «Komm», sagte sie leise, nahm das Textheft und hielt es der Freundin auffordernd entgegen, «noch einmal die letzte Szene, dann löschen wir die Kerze. Und morgen bittenwir Monsieur Löwen, ob wir nach der Vorstellung noch ein oder zwei Stunden in der Garderobe üben dürfen, wenn wir ihm die Kerzen bezahlen. Dann bist du bis zur Probe am nächsten Tag gut vorbereitet.»
    Loretta schüttelte den Kopf. «Jetzt geht es nicht mehr. Der Schwung ist weg. Und du hast ja recht, ich darf die Krögerin nicht verärgern. Wenn meine Stimme sie ein zweites Mal weckt, setzt sie womöglich nicht nur mich, sondern auch dich auf die Straße.» Sie setzte sich auf und begann Nadeln und Bänder aus ihrem Haar zu lösen. «Damals in Straßburg», murmelte sie, «habe ich mir das doch etwas anders vorgestellt.»
    Rosina war schon sehr schläfrig gewesen, doch nun wurde sie wieder hellwach. Straßburg? Das war genau der richtige Moment.
    «Straßburg?» fragte sie. «Bist du dort geboren?»
    Loretta schwieg und sah auf das Band aus weißem Samt, das über ihren gespreizten Fingern zu einer glatten Rolle wurde. «Nein», sagte sie dann. «Aber ich habe dort gelebt. Eine Weile.» Sie lachte leise. «Eine schöne Weile. Zu Anfang. Dann war es nicht mehr so schön, und ich bin gegangen.»
    Sie sah Rosina an, nachdenklich, abwägend, und schließlich lösten die vertrauten Grübchen die ungewohnte Strenge in ihrem Gesicht wieder auf. «Ich weiß nichts von dir, Rosina», sagte sie, «ich weiß nicht, woher du kommst, wer dich Französisch und all die vielen Dinge gelehrt hat, die du weißt. Und die feinen Manieren, die dich von den meisten von uns unterscheiden. Oh, wir haben alle feine Manieren, aber wir haben sie gelernt wie eine Rolle, und wir vergessen sie oft. Bei dir ist das anders, bei dir sind sie so natürlich wie das Atmen.»
    Rosina hörte verblüfft zu. Sie hatte diesen Unterschiednie bemerkt, und sie glaubte auch nicht, daß er tatsächlich existierte. Daß sie sich am Hamburger Theater so fremd fühlte, hatte andere Gründe: In der Beckerschen Gesellschaft, bei Helena, Jean, Rudolf und Gesine, bei Sebastian, Titus und den Kindern hatte sie sich gefühlt wie in einer Familie. Es hatte auch dort Streit gegeben, sogar heftigen, aber doch nicht diese Fremdheit, die sie in den letzten Wochen erlebte, diese Mauer, die sie verletzte und einsam machte. Alle, die bei den Beckerschen auf der Bühne standen, waren unter dem Theaterkarren geboren worden, alle, außer ihr und Sebastian, und doch war sie ganz eine von ihnen gewesen.
    «Wir machen einen Handel, Rosina», fuhr Loretta leise fort. «Heute nacht erzähle ich dir meine Geschichte, und morgen nacht höre ich deine.»
    Rosina schluckte. Nicht einmal Helena, der sie so nahe stand wie sonst niemandem, kannte ihre ganze Vergangenheit. Aber bevor sie überlegen konnte, ob sie bereit war, Loretta zu vertrauen, begann die schon zu erzählen.
    «Es fing an, als ich fünfzehn und ein Niemand war. Lore Gürlich, ein Küchenmädchen. Ich verstand kein Wort Französisch, und in Frankreich war ich auch niemals gewesen. Aber ich war hübsch und auch geschickt, und wenn viele Gäste da waren, durfte ich bei Tisch bedienen. Darauf war ich stolz, ich liebte den Rock aus dunkelblauem Kattun und die feine weiße Schürze, die sie mir dafür gegeben hatten. Sie luden häufig Gäste ein, nicht nur aus unserer Gegend, es kamen auch Franzosen und Italiener, auch Engländer, und einmal war sogar ein Mann aus St. Petersburg da, der trotzdem sehr gut unsere Sprache sprach. Um es kurz zu machen, sonst schläfst du mir noch ein: An einem Abend war unter ihnen ein junger Kaufmann aus Frankreich, aus dem Elsaß, unterwegs in irgendwelchenGeschäften in England und nun auf der Heimreise. Der Sohn meines Herrn war sein Freund von ihren Studien auf der Universität Leiden, und so ruhte er sich einige Tage im Haus meiner Herrschaft aus, bevor er sich auf die letzte Etappe, den Rhein hinunter, machte. Und», sie kicherte zufrieden, «er verliebte sich in dieses fünfzehnjährige Ding, das mit vor Anstrengung rotem Kopf Schüsseln aus der Küche ins Speisezimmer schleppte. Vielleicht mochte er mein

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