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Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Bühne geschahen seltsame Dinge. Der verkleidete Baron, der nun eigentlich seinen größten Auftritt haben, die falschen Liebhaber entlarven und sich selbst zu erkennen geben sollte, trommelte mit den Fingern auf den Tisch und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, und plötzlich sauste aus den Kulissen an der rechten Bühnenseite eine junge Frau quer über die Bühne und verschwand in den Kulissen auf der linken Seite. Ihr schlichtes Kleid und ungeschminktes Gesicht zeigten, daß sie nichts mit dieser Szene zu tun haben konnte. Wer mochte sie sein? Bevor diese Frage im Publikum ausführlich debattiert werden konnte, schrie irgend jemand aus dem hinteren Bühnenraum: «Vorhang!! So laßt doch den Vorhang herunter!» Der Musikmeister, der gerade seine Noten für die Schlußmusik sortierte, sprang auf, ließ beide Arme hochflattern, und schon begann das Orchester zu spielen.
    Leider wußten die Musiker nicht, welches Stück gefordert war, denn eigentlich stand nun gar keines auf dem Plan, und so dauerte es einige für Musikliebhaber höllische Minuten, bis die Stimmen aller Instrumente in der Ballettmusik zusammenfanden, die der Komödie folgen sollte. Darin wurde viel auf den Waldhörnern geblasen, die Violinen jauchzten wie nie, und auch getrommelt wurde noch, aber nur wenig, weil das für eine Ballettmusik nicht paßte.
    Der Vorhang senkte sich nicht wie gewöhnlich mit eleganter Langsamkeit, sondern fiel herab, als sei er aus Stein. Die Ballerinen, in ihrer Garderobe beim Schwatzen von der Musik aufgescheucht und sicher, ihren Einsatz verpaßt zu haben, sprangen eilig auf die Bühne und begannen sofort mit gewohnter Disziplin zu tanzen, bis der Lichtputzer ihnen zurief, es sei überflüssig, hinter demheruntergelassenen Vorhang zu tanzen, und der gehe heute auch nicht mehr hoch.
    Als das protestierende Johlen im Parkett und auf der Galerie schon das Orchester zu übertönen begann, trat schließlich Abel Seyler vor den Vorhang. Sein Ausdruck war beunruhigender als der Effekt jeglicher Schminke, und der Staub auf seinen schwarzseidenen Kniehosen und seinem tannengrünen Seidenrock ließen ihn wie einen Flüchtling erscheinen. Er hob die Hände, und, was sonst nie gelang, die Stimmen verstummten sofort. Hälse wurden gereckt, Lorgnettes gehoben und wer noch flüsterte, mit einem Schubser zur Ruhe gebracht.
    «Mesdames, Messieurs   …» Seyler versuchte ein Lächeln. «Ich möchte mitteilen, daß die Komödie einen guten Ausgang hat.» Er räusperte sich, und seine rechte Hand glitt unruhig unter die Halsbinde mit dem völlig verrutschten Spitzenjabot. «Wie ich schon sagte: einen guten Ausgang. Es ist aber nicht möglich, ihn zu zeigen. Es ist auch nicht möglich, heute noch tanzen zu lassen. Das angekündigte Ballett wird nicht mehr gegeben.»
    Sofort einsetzendes Murren und Pfeifen brachte er wieder mit einer energischen Handbewegung zum Schweigen. Seyler suchte verzweifelt nach Worten, die die schreckliche Wahrheit ein wenig schöner, ein wenig milder machen konnten. Es war wohl gut, das Publikum mit einem Flugwerk, Feuerzauber oder der Donnermaschine zu erschrecken – aber das hier? Das war kein Spaß.
    «Mesdames, Messieurs!» rief er schließlich. «Das Theater ist für heute aus. Leider. Ein Unfall. Eine unserer hervorragendsten Aktricen, eine junge Schönheit mit großer Zukunft, ist hinter der Bühne gestürzt. Es ist dort recht dunkel, nun ja, sie ist gestürzt und hat sich ernstlich verletzt. Ich bitte sehr, das Theater zu verlassen. Die Billettsvon heute», fügte er nach kurzem Zögern hinzu, «werden noch einmal gültig sein, um für das versäumte Ballett zu entschädigen. Und nun zum Ausgang noch eine Anglaise.»
    Der Kapellmeister starrte zu Seyler hinauf. «Anglaise??» formten seine Lippen, aber Seyler nickte nur und war schon hinter dem Vorhang verschwunden. Er hatte nicht darüber nachgedacht, ob das Publikum nach dieser aufregenden Neuigkeit einfach nach Hause gehen würde, er hätte es nicht geglaubt, aber das Wunder geschah. Obwohl oder vielleicht auch weil die Anglaise, die nun ertönte, wahrlich nicht zum Tanzen animierte, war der Zuschauerraum bis hinauf in die Galerie eine halbe Stunde später leer. Die letzten Kerzen im großen Saal brannten herunter und verloschen von selbst, der Lichtputzer hatte genug damit zu tun, die Lichtbäume in den Kulissen mit neuen Talgkerzen zu versorgen.
    Dr.   Reimarus hatte als erstes Licht gefordert. Viel Licht.
    Als der Botenjunge kam und ihn

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