Lorettas letzter Vorhang
Wahrscheinlich hat sich herumgesprochen, daß es hier einen veritablen Rollenkampf gegeben hat. Habt Ihr etwa geplaudert, Mademoiselle? Ach was, Ihr sicher nicht.»
«Nein, Monsieur, ich sicher nicht. Und ganz gewiß auch niemand anderer. Vielleicht liegt es an der Prüfung des Baumeisters.»
«Am Vergnügen des Gedankens, es könnte einem das Dach auf den Kopf fallen? Oder besser: nur dem Nachbarn? Jedenfalls lockt ein hübscher kleiner Kitzel der Nerven doch mehr Menschen als die beste Tragödie. Was denkt Ihr, sollten wir schnell einen veritablen Skandal inszenieren, um unsere lieben Löwen und Seyler von der ewigen Sorge um die leere Kasse zu erlösen?»
Er schien keine Antwort zu erwarten. Sein Blick suchte die Reihen der Logen ab, und dann sah Rosina ihn lächeln. Sie folgte seinem Blick, und auch wenn sie nicht wußte, wen er gerade erkannt hatte, entdeckte sie in einer der Logen auf der rechten Seite, nicht weit von der Bühne, Anne und Claes Herrmanns. Claes beugte sich eben über die Brüstung und sprach mit einem Herrn in der Nachbarloge, dem Seidenhändler und Tapetenfabrikanten König, wenn Rosina sich nicht irrte. Das Licht war zu matt, umnur flüchtig bekannte Gesichter genau zu erkennen. Doch, er mußte es sein, denn nun erkannte sie auch Madame König, eine wahre Theaterenthusiastin, die an vielen Abenden in ihrer Loge saß. Das spitze Kinn, die ein wenig große Nase und die dunklen, stets aufmerksamen, freundlichen Augen gaben ihrem Gesicht etwas Unverwechselbares. Lessing fand das ganz offensichtlich auch.
Die Herrmanns waren nicht allein in der Loge. Neben Anne saß Agnes Matthew, ihr Gatte Thomas in der zweiten Reihe hinter ihr studierte im Schein der Kerze den Theaterzettel. Die beiden anderen Stühle waren nicht besetzt.
Sie würden heute abend leer bleiben. Madame Augusta war noch nicht wieder bereit für das Theater, um so weniger, wenn sie vermuten mußte, daß man dort eine von Telemanns heiteren Suiten spielen würde. Christian saß mit Professor Büsch über Plänen für die neue Handelsakademie. Und Niklas? Claes hatte sich zwar geschworen, seinem jüngsten Sohn nicht jede Ungehörigkeit durchgehen zu lassen. Aber er hatte sich doch dazu durchgerungen, ihm zu erlauben, daß er seine versprochene Schachstunde gab und heute dem Theater fernblieb. Es war ihm nicht so schrecklich schwer gefallen. Zum einen, weil es Augusta, die ihren kleinen Großneffen sehr mochte, unterhalten und freuen würde, zum anderen, weil es ihm wenig verlockend erschien, den ganzen Abend in Gegenwart dieses mißgestimmten Jungen zu verbringen, dessen Blick verriet, wie unangemessen er diese Art Vergnügen für ehrbare erwachsene Leute hielt. Claes empfand so einen Theaterabend auch nicht gerade als seinen liebsten Zeitvertreib. Aber Anne zuliebe war er entschlossen, das Spektakel – was war es sonst? – zu genießen. Es gab zum Glück eine Komödie samt Gespenst, heiterer Musik, zum Abschlußein Ballett, und mit den Königs in der Nachbarloge versprachen zumindest die Pausen mehr als Agnes’ heiteres Geschwätz.
Madame Matthew hatte beide Arme auf die Brüstung gelegt, zeigte der Welt ihre schlanken, teuer beringten Hände und einen delikaten Blick auf ihr leicht vorgebeugtes Dekolleté. Um ihren Hals, der jedem Schwan zur Ehre gereicht hätte, wand sich auch heute eine Reihe der schönsten Perlen, die Anne je gesehen hatte.
Sie blickte an sich herunter, betrachtete ihr Kleid aus matter, graublauer französischer Seide, die kostbaren Knöpfe auf der kurzen Jacke und die Rüschen aus feiner Lyoner Spitze an den Ärmeln. Noch vor einer Stunde war es ihr als edle Robe erschienen, viel zu fein für einen einfachen Theaterbesuch, und nun fragte sie sich zum tausendsten Mal, wie Agnes es nur machte, daß neben ihr jede Frau wie ein Aschenmädchen wirkte. Oder doch zumindest wie ihre Zofe. Anne war entschlossen, wenigstens nicht die Miene einer Zofe aufzusetzen. Sie straffte ihre Schultern, strich tröstend über die Seide ihrer Röcke und stützte sich neben Agnes auf die Brüstung. Wenn sie Claes an diesem Abend schon mit den Matthews teilen mußte, wollte sie das Beste daraus machen. Agnes mochte sich wie ein kostbares Ausstellungsstück präsentieren, aber tatsächlich entging ihren flinken Augen nichts und niemand in dem Gewimmel der Ränge und des Parketts. Das Theater begann schließlich lange, bevor der Vorhang sich hob.
Auf der Galerie war es zu dunkel, um irgend jemanden zu erkennen, dort würde auch
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