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Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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in großer Eile wegen eines Unfalls zum Theater bat, hatte er gerade im Hausrock in seinem Arbeitszimmer gesessen, eine lange Tonpfeife entzündet und behaglich über einem neuen Aufsatz über die Möglichkeiten und Risiken der Blatternimpfung gegrübelt. Natürlich war er dem Jungen gleich gefolgt. Aber als er sich seinen Weg durch die aufgeregt schwatzenden, davonschlendernden Zuschauer, die Sänften und Kutschen durch den Gang in den Theaterhof erkämpfte, hatte er mit einem gewissen Grimm überlegt, ob man den Rat und die Baudeputation nicht einmal auf die bedenkliche Häufigkeit der Unfälle im Theater hinweisen sollte. Schon viermal war er seit der Eröffnung im April gerufen worden, um die verrenkten Knöchel oder Schultern einerBallerina zu richten. Einmal hatte sich der Maschinenmeister vier Finger in einer der Bühnenversenkungen gequetscht.
    Nun war er dessen nicht mehr so sicher. Die Komödiantin, die wie ein Haufen vergessener Kleider in den Kulissen lag und Madame Hensels eiliger Flucht von der Bühne im Weg gewesen war, zeigte keine der üblichen Verletzungen, die ein Körper aufweist, der hart gefallen oder von einem schweren Gegenstand getroffen worden ist. Ihr Gesicht war ganz still, fast lächelte sie, bereit, auf jede Frage mit großer Freundlichkeit zu antworten. Er hätte sie gern befragt, aber die junge Frau, Mademoiselle Grelot, konnte nicht antworten. Ihre große Zukunft, die Seyler eben noch vor dem Vorhang gepriesen hatte, war schon zu Ende. Aber es war ganz gewiß kein Unfall gewesen. Irgend jemand hatte ihr das Genick gebrochen. Jemand, der genau wußte, wie man so etwas schnell und ohne Aufsehen machte.

4.   KAPITEL
    DONNERSTAG, DEN 8.   OKTOBER,
BEI SONNENAUFGANG
    Von St.   Petri schlug es halb sechs. Henner Schwarzbach legte den Löffel neben die leergegessene Schüssel und überlegte, ob er sich ein paar neue Gewohnheiten zulegen sollte. Alle Tage Gerstenbrei mit ein paar Tropfen Honig zum Frühstück erschien ihm heute morgen recht ärmlich. Er schob seinen Stuhl zurück und trat ans Fenster. Der Himmel wurde schon ein wenig blaß, in einer Stunde würde die Sonne über den Dächern aufsteigen. Er hatte schlecht geschlafen, Träume, unruhige Bilder ohne Sinn, hatten ihn gestört. Seine guten, sonst stets traumlosen Nächte waren ihm heilig, und so fühlte er sich eher ärgerlich als müde. Er war ein Mann, der alle Tage seinen Geschäften nachging, bedeutenden Geschäften, aus der Blaudruckerei, die sein Vater ihm hinterlassen hatte, hatte er eine große Manufaktur gemacht. Die Blaudruckerei war nur noch ein Nebengeschäft. Schwarzbachs Spezialität waren die aufwendigen Verfahren nach der ostindischen Manier, die aus schlichten Baumwollbahnen die kostbaren, in vielen Farben leuchtenden Indiennes machten. Seit diese farbigen Kattune nicht mehr teuer aus Indien eingeführt werden mußten, sondern in europäischen Druckereien hergestellt werden konnten, waren sie nicht nur beim Adel, sondern auch in den großen und kleinen Bürgerhäusern hoch begehrt. Schwarzbachs Ware stand in gutem Ruf, keine wichtige Messe, von der er oder sein Sohn nicht mit neuen lukrativenVerträgen zurückkam. Kurz und gut, er war ein Mann, der sich von privaten Wünschen nicht stören lassen konnte. Es war Zeit, Entscheidungen zu treffen. Wenn es seine Art gewesen wäre, zu seufzen, hätte er jetzt geseufzt, aber so räusperte er sich, zog seine Halsbinde etwas fester, zündete die Kerze in der messingnen Handlaterne an und machte sich auf den Weg durch seine Kattundruckerei. Das würde ihm die gewohnte Ruhe zurückgeben.
    Schwarzbachs Anwesen in der Mitte der Stadt an der Kleinen Alster war weitläufig, eine ganze Ansammlung von miteinander verbundenen Gebäuden, in denen ein Fremder sich schnell verlief. Den größten Raum beanspruchten die Drucksäle, das Lager und die Ställe. Seine Wohnung nahm die erste und zweite Etage über den Lagerräumen im Eckhaus zum Neuen Wall ein. Seit seine Frau gestorben war und die Kinder es vorgezogen hatten, mit ihren Familien in neueren Häusern zu wohnen, erschien sie ihm viel zu groß. Gestern mittag, als das Sonnenlicht durch die breiten Fenster hereinfiel, hatte er sie dennoch eng gefunden. Die alten Tapeten aus Leder und dunkelrotem Leinen ließen die Räume düster wirken wie Mausoleen, und er hatte beschlossen, helle papierne Tapeten in Auftrag zu geben. Die Druckstöcke wollte er selbst liefern – wer hatte bessere Formschneider als er?   –, und Freda

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