Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
Vom Netzwerk:
seiner Handlaterne entzündete. Er stellte einen der Leuchter auf sein Pult, und daß er dabei noch einen Blick auf die Truhe warf, war nur ein Zufall. Er hatte schon nach den Listen für die Lieferung nach Sachsen gegriffen, die in der nächsten Woche auf der Elbe nach Südosten gehen sollte, als er dachte, sie sehe irgendwie anders aus. Ein wenig nur, aber doch anders. Er hatte sich nicht geirrt. Der Deckel war zwar heruntergeklappt, aber weil die Metallzapfen nicht in den Schlössern steckten, stand er ein klein wenig hoch, vielleichtein Zoll, kaum mehr. Die Truhe war nicht verschlossen, und irgend jemand mußte es gewußt haben.
    Als er den Deckel ganz hoch klappte und mit den Kerzen hineinleuchtete, sah er es sofort. Ein Musterbuch fehlte, das mit den kunstvollen Mustern, die in keiner anderen Hamburger Druckerei angeboten wurden.
    Schwarzbachs schmales Gesicht wurde noch schmaler. Der Verlust des Musterbuches war schlimm, aber die Druckstöcke waren alle geschnitzt, und er wußte, daß Freda zumindest von ihren Mustern, und das waren die schönsten und teuersten, Kopien angefertigt hatte. Ein anderes Exemplar hatte sein Sohn natürlich mit auf Reisen genommen, nach London und Bristol, um damit neue Kunden zu gewinnen. Aber er wußte gleich, daß nicht nur das Musterbuch fehlte.
    In der Truhe, sonst ordentlich gepackt und geschichtet wie ein Wäscheschrank, herrschte großes Durcheinander. Er kniete nieder, hielt den Leuchter hoch und verfluchte das matte Licht. Die meisten Schriftstücke waren zwar noch immer fest zu Packen verschnürt, aber die lagen jetzt kreuz und quer, als habe jemand in großer Eile mit beiden Händen darin gewühlt. Die eiserne Münzschatulle war noch da, unversehrt, doch darüber konnte Schwarzbach sich nicht freuen. Wer immer hier eingedrungen war, wußte, was den größten Wert hatte. Die Rezepte des ersten Coloristen in der Schwarzbachschen Kattundruckerei waren viel mehr wert als ein paar Wechselbriefe über geringe Summen, alte Register oder eine kleine Schatulle voll englischer, französischer und russischer Goldstücke. Der Dieb hatte nach Baders Rezeptheft gesucht, und er hatte es gefunden.
    DONNERSTAG, DEN 8.   OKTOBER, MORGENS
    «Du solltest wirklich etwas essen, Rosina. Wenigstens einen Pfannkuchen, Elsbeth hat extra für dich einen Apfel hineingeschnitten. Tu’s Elsbeth zuliebe.»
    Rosina schüttelte den Kopf. Sie sah in Annes besorgtes Gesicht und hätte ihr und Elsbeth gerne den kleinen Gefallen getan, aber es ging nicht.
    «Mein Hals ist zugeschnürt», murmelte sie. «Ich kann nichts essen. Sag Elsbeth meinen Dank. Später vielleicht.»
    Anne nickte, stellte das Tablett auf die Kommode und setzte sich neben Rosina auf die gepolsterte Bank am Fenster. Sie wollte etwas Tröstendes sagen, aber ihr fiel nichts ein, so nahm sie Rosinas Hand in die ihre und schwieg.
    Die Sonne wanderte um die Spitzen der gegenüberliegenden Dächer, erreichte das Fenster und fiel auf Rosinas Gesicht. Anne hatte sie in den letzten beiden Jahren mehr als einmal in schweren Momenten gesehen, aber nie zuvor war ihr Gesicht so bleich und ohne Leben gewesen.
    «Ich möchte dich gerne trösten», sagte sie leise, «aber ich weiß, daß das nicht geht. Als Felicity starb», fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, «sie war das Kind unserer Nachbarn und für mich immer eine Schwester, konnte mich auch niemand trösten. Sie starb nach der Geburt ihres ersten Kindes, es ist schon sehr lange her. Aber obwohl ich in ihren letzten Stunden bei ihr gewesen war, wollte ich nicht glauben, daß sie nicht mehr zu meinem Leben gehörte, daß wir nie wieder   …»
    Anne stockte, sie hatte lange nicht mehr an Felicity gedacht. Auch nicht an das Kind, dem sie lange Zeit nur mit geheimem Groll begegnen konnte. Und plötzlich hofftesie, daß sie das Kind, nun fast selbst schon eine Frau, bald wiedersehen würde.
    Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und mit ihrer Trauer um den lange zurückliegenden Tod einer Freundin tröstete sie Rosina mehr als mit allen klugen Worten.
    Rosina drückte die Hand, die warm in ihrer lag, und nickte: «Ich kann es nicht glauben. Ich will es auch nicht glauben. Mein Gott», ihre Stimme brach in einem zornigen Schluchzen, «sie hat doch niemandem etwas getan. Und selbst wenn sie gerne ihre Spiele gespielt hat, mit der Liebe, mit uns allen, manchmal auch mit der Wahrheit, sie hat doch niemandem Schaden zugefügt, sie kann niemanden so verletzt haben. Wer konnte das tun?

Weitere Kostenlose Bücher