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Lorettas letzter Vorhang

Lorettas letzter Vorhang

Titel: Lorettas letzter Vorhang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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sogar zwei, die nur darauf warteten, ihm Geheimnisse anderer Leute zuzuflüstern. Er hatte viel von dem Streit und den Intrigen gehört, die im Theater am Gänsemarkt Alltag waren, und erwartete, gerade hier werde er mit allerlei Andeutungen, zumindest mit dem üblichen Klatsch überschüttet werden. Aber die Menschen, denen er in den Garderoben seine Fragen stellte, wußten plötzlich nichts mehr von Streit und Intrigen. Wenn stimmte, was er bis jetzt gehört hatte, herrschten hinter dieser Bühne ausschließlich Freundschaft und gegenseitiger Respekt.
    Er wußte, daß das nicht stimmte. Doch wenn er nicht acht gab, würde er sich von diesen freundlichen, gleichwohl undurchschaubaren Gesichtern doch noch einlullen lassen.
    FREITAG, DEN 9.   OKTOBER, MITTAGS
    Freda hatte sich niemals erlaubt, ihrer Arbeit auch nur einen halben Tag fernzubleiben. Aber als sie heute morgen aufgewacht war, es war noch dunkel gewesen, und sie hatte nur wenige Stunden geschlafen, wünschte sie sich nichts, als wieder einzuschlafen und erst zu erwachen,wenn all die Angst und Ungewißheit vorüber waren. Für wenige Minuten hatte sie ihrer Sehnsucht nachgegeben, aber natürlich konnte sie nicht wieder einschlafen. So stand sie auf, öffnete das Fenster ihrer Kammer, hielt ihr Gesicht in die feuchte, kalte Luft und horchte hinaus auf die Gasse. Im Haus gegenüber pfiff jemand, es klang froh und zufrieden, und auch als ein Säugling zu greinen begann, brach das Pfeifen nur kurz ab. Dann wurde die Tür der Kammacherei aufgeschoben, Freda erkannte sie immer an dem ganz besonderen Kratzen der Türangeln, und der jüngste Lehrling begann, die Abflußrinne vor dem Haus zu fegen. Aus einem Fenster im zweiten Stock über der Silberschmiede wurde eine Waschschüssel geleert, der Lehrling mit dem Reisigbesen konnte gerade noch zur Seite springen. Dann näherte sich ein Rumpeln, und Freda sah einen Mann, der eine hochbeladene Karre vorbeischob.
    Sie hatte schnell das Fenster geschlossen, denn mit dem dumpfen Geräusch hatte Lukas’ Rückkehr gestern abend wieder vor ihr gestanden wie ein neu gemaltes Bild.
    Nun war es fast Mittag, der Himmel über der Alster war grau geblieben, kaum heller als zur Zeit der Dämmerung, und selbst die Farben auf ihrem Arbeitstisch schienen ihre Leuchtkraft verloren zu haben. Die Scham über die besinnungslose Trunkenheit ihres Bruders quälte sie, und der Zorn und die Schuld, die in ihrer Brust einen vergeblichen Kampf um die Vorherrschaft kämpften, ließen ihre Muster heute scharf und kantig werden. Aber sie gefielen ihr, sie waren wie ein Aufbegehren gegen die süßen, rundlichen Blumen und die molligen Schäferinnen, die Schwarzbach von ihr erwartete.
    Den ganzen Abend hatte sie gestern auf Lukas gewartet, sie hatte sich die Worte gut zurechtgelegt, hatte gewußt, wie sie anfangen wollte, ohne daß sich sein Gesicht gleich verschloß. Sie war gewappnet gewesen, nicht wieder seinem Charme zu erliegen, nicht wieder den jungen Herrn in ihm zu sehen, dem ein trübes Schicksal die angemessene Stellung vorenthielt. Sie wollte ihn als das behandeln, was er war: ihr jüngerer Bruder, den sie zwar mehr liebte als irgendeinen anderen Menschen, der aber endlich lernen mußte, daß das Leben nicht so war, wie er es sich zurechtphantasierte.
    Doch dann hatte dieser Mann an ihre Tür geklopft, und gemeinsam hatten sie Lukas aus dem Karren, die Treppe hinauf und in seine Kammer getragen. Viele Fenster und Türen waren aufgegangen, und die Nachbarn hatten das schmachvolle Schauspiel mit angesehen. Niemand hatte ihr geholfen. Der Triumph darüber, daß die Blanks eben doch nicht besser waren als sie selbst, stand deutlich in den Gesichtern.
    Am Morgen war keine Zeit mehr gewesen, mit ihm zu sprechen. Blaß wie ein Leintuch war er in die Küche gekommen, hatte sich einen Krug Wasser über den Kopf geschüttet, einen zweiten leergetrunken und mit einer hastig gemurmelten Entschuldigung die Wohnung verlassen. Nun stand er unten in der Druckerei, und Freda hoffte, daß er heute nur einfache, billige Muster zu drucken hatte. Jedes verdruckte Stück Kattun würde Schwarzbach ihm von seinem Lohn abziehen, und auch wenn die Drucker besser verdienten als andere, die auch keiner Zunft angehörten, war es für Lukas nie genug.
    Sie sah aus dem Fenster. Eine Schute, beladen mit englischer Steinkohle für die großen Öfen unter den Kesseln in der Färberei, wurde durch die Kleine Alster gestakt und bei den Luken festgemacht. Die Männer auf

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