Lorettas letzter Vorhang
dem Kahnriefen den beiden Frauen, die auf den Flößen rohe Kattunbahnen spülten, etwas zu. Eine lachte laut, aber die andere senkte schnell den Kopf. Freda beugte sich vor und erkannte den Grund. Schwarzbach war auf das fest am Ufer und im Fluß verankerte Floß getreten. Nun drehte er sich um und grüßte zu Freda hinauf. Er neigte dabei den Kopf, aber sein Lächeln hatte nicht mehr die werbende Unsicherheit der letzten Wochen. Sein Lächeln war das eines Siegers.
Vielleicht, dachte Freda, sollte sie einfach zu ihm gehen und ihm sagen – was sollte sie ihm sagen? Daß sie seine Frau werden würde? Er hatte sie ja nicht einmal gefragt. Er hatte Andeutungen gemacht, und vielleicht hatte er gar nicht an eine Ehe, sondern nur an das gedacht, was man allgemein «Arrangement» nannte. Würde er das wagen?
Sie lehnte sich zurück, damit er sie nicht mehr sah, und spürte die vertraute Kühle zurückkehren. Warum nicht? Konnte es so schwer sein, zu tun, was andere Frauen auch taten? Wäre es nicht auch eine Erlösung, in Sicherheit zu sein?
Sie wischte ihre Gedanken beiseite, tauchte den Pinsel in die gelbe Farbe und gab einer Margerite einen eleganten Schwung. Vier Tage hatte er gesagt. Heute abend würde sie mit Lukas reden, und sie würde die Wahrheit aus ihm herausholen, egal auf welche Weise. Wieder hob sie den Blick, sie wollte nur nach dem Himmel sehen, ob die Sonne nicht doch noch hervorkommen und ihre Farben leuchtend machen würde. Aber sie sah nicht den Himmel, sie sah Lukas, der gerade in dem engen Gang zwischen dem Haus der Matthews und dem aufragenden Holzgebäude der Wasserkunst verschwand.
In den langen Stunden, die sie gestern auf ihn gewartethatte, war es ihr immer wahrscheinlicher erschienen, daß er der Dieb des Musterbuches war. Sie hatte ihm ja tatsächlich und schon vor Tagen erzählt, daß das Schloß der Truhe nichts tauge und daß Schwarzbachs Geiz leichtfertig sei, weil die Truhe die kostbaren Muster und allerlei wichtiges Papier enthalte. Gewöhnlich interessierte er sich nicht für ihren Alltag und stellte nicht mehr Fragen, als die Höflichkeit erforderte. Aber nach den Schlössern hatte er sehr genau gefragt, und sie hatte sich darüber gefreut. Er hatte auch gefragt, wie lange Schwarzbach gewöhnlich im Kontor sei, und darüber gescherzt, daß sich ein so reicher und gewitzter Manufakteur solche Nachlässigkeiten erlaube.
Allein in der Dunkelheit hatte sie sich nicht mehr dagegen gewehrt, sich einzugestehen, daß ihr Bruder ebenso liebenswert wie leichtfertig war. Und allein in der Dunkelheit wurde der Verdacht zur Gewißheit. Lukas war der Dieb. Er mußte es sein. Sie wußte ja, daß er lange auf sein Glück, wie er gerne sagte, wartete. Sie hatte allerdings nie daran gedacht, daß er versuchen würde, es mit einem Diebstahl zu erzwingen. Mit einem Diebstahl, der
ihr
Unglück sein würde. Aber auch wenn sie die gestohlenen Bücher in seiner Kammer, die sie mit wachsendem Zorn endlich durchsucht hatte, nicht finden konnte, hatte sie zuerst nicht daran gedacht, daß er sie vielleicht schon weitergegeben hatte. Als Tausch gegen irgendeinen kleinen Schuldschein? Oder verkauft? Wem? Kein Hamburger Kattundrucker würde es wagen, das Buch zu kaufen. Aber es waren immer genug Fremde in der Stadt. Wer wußte schon, von wem er sich zu so einem Diebstahl hatte verführen lassen?
Plötzlich waren die vier Tage Frist viel zu kurz. Es mußte ihr gelingen, die Frist zu verlängern, um ein oderzwei Tage nur, lange genug, um die Bücher wieder herbeizuschaffen.
Sie starrte immer noch auf den Gang zwischen den Häusern, wo Lukas gerade verschwunden war. Hatte er die kostbaren Bücher unter seiner Jacke verborgen? Wohin, zu wem mochte er nun gehen?
Wenn sie es nicht schaffte, Schwarzbach die Muster und Rezepte zurückzubringen, mußte sie sich keine Gedanken mehr darüber machen, ob sie es ertragen würde, seine Frau zu sein. Selbst er würde es nicht wagen, eine Frau zu heiraten, deren Bruder als Dieb von Kontorgeheimnissen bekannt war.
Lukas Blank war froh, daß die Sonne es heute vorgezogen hatte, nicht über Hamburg zu scheinen. Sein Kopf fühlte sich wie ein großer Ballen Baumwolle an, nur viel schmerzhafter. Seinen Augen erschien selbst das trübe graue Herbstlicht scharf wie ein Messer, und wenn sein Blick auf die träge bewegte Alster fiel, hob sich sein Magen. Er überquerte die Brücke zwischen der Kleinen und der Binnenalster und ging durch die Marktstraße auf St. Petri zu. Alle
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