Lorettas letzter Vorhang
daß keiner, der so schlau über sie rede, Loretta überhaupt gekannt habe, tauchte Jakobsen auf. Er sammelte die Gläser und Krüge ein, auch die, die noch nicht ganz leer waren, und sagte, nun sei es genug mit der Faselei, Mademoiselle brauche jetzt mal ein bißchen Ruhe.
Diesmal wehrte Rosina sich nicht. Sie mochte nicht mehr zuhören, mochte diesen Kattundrucker mit seiner abfälligen Art zu reden und den feuchten, heruntergezogenen Lippen nicht mehr sehen. Der ganze Jammer stieg wieder in ihr auf. Sie sah Loretta im gelben Licht der Laternen vor dem roten Abendhimmel über der Alster, hörte sie lachen, hörte ihren hübschen falschen Akzent und wünschte sich, Jakobsen würde ihr ein großes Glas Branntwein auf den Tisch stellen, was er nie tun würde, einfach weil er sich nicht vorstellen konnte, daß sie welchen trank. Ach, Loretta. Wäre ich doch auf deiner Seite der Kulissen geblieben, dachte sie, wären wir zu zweit gewesen, würdest du noch leben. Sie wußte, daß das Unsinn war. Wer nicht wollte, daß Loretta lebte, hätte eine andere Gelegenheit gefunden. Natürlich hätte sie das nicht verhindern können, und doch überlegte sie seit gestern immer wieder, immer wieder und auch nun, was sie hätte tun können, um Loretta zu retten.
Sie bemerkte kaum, wie die Männer, Vandenfelde als letzter, die Schenke verließen. Sie saß da mit hängendem Kopf, und tatsächlich, da schob sich ein Glas Branntwein, nur halb voll, aber doch Branntwein, direkt vor ihre Nase. Jakobsen ließ sich auf die Bank fallen und sah sie stirnrunzelnd an.
«Du bist selbst schuld, wenn du dir das Gewäsch der besoffenen Kerle so lange anhörst. Ich hätte sie gern rausgeschmissen.»
«Ich weiß.» Rosina wischte die Tränen weg und nahm das Glas. «Ich weiß. Aber ich dachte, wenn ich mit ihnen rede, oder besser, wenn ich sie reden lasse, erfahre ich vielleicht etwas.»
«Verdammt, Rosina! Überlaß das der Wedde. Du kennst doch Wagner, der ist kein Dummkopf, und das hier ist kein Spaß. Am liebsten würde ich dich anbinden, oben in der Kammer über der Küche, da kommt so schnell keiner hin. Ich habe einen leichten Schlaf, und Ruth kommt schon aus der Tür gestürzt, wenn ein Nachtfalter die Treppe raufschwirrt. Warum lachst du?»
«Weil ich heute morgen von Wagner und den Herrmanns genau das gleiche gehört habe. Also gib dir keine Mühe. Ich verspreche dir, ich passe auf mich auf. Ich gehe nicht im Dunkeln durch die Stadt, und außerdem, wer Loretta etwas antun wollte, hat nicht mich gemeint. Ich lasse mir keine Angst machen.»
Das klang trotzig, und das war es auch, denn tatsächlich sah Rosina seit gestern mehr Schatten, hörte sie mehr seltsame Geräusche als noch einen Tag zuvor.
«Na gut, dann trink wenigstens das Schlückchen Branntwein. Ich habe die Kerle übrigens auch weggeschickt, weil hier schon seit Stunden einer sitzt und auf dich wartet. Er war bei der Krögerin, hat er gesagt, aber die wollte ihn nicht reinlassen. Hier kann ja jeder rein, wenn er nicht zu sehr stinkt und randaliert, also hat er sich hingesetzt und gewartet. Ich habe ihn fast vergessen. Komisch, warum ist er denn nicht aus seiner Ecke rausgekommen? Die haben doch alle laut genug deinen Namen gebrüllt.»
Jakobsen drehte sich um und grinste. «Das Warten hat ihn müde gemacht. Er sitzt da am hinteren Tisch, ganz in der Ecke. Und schläft. So ein Kerl. Wenn er den ganzenKrug, der da vor ihm steht, leergetrunken hat, ist das auch kein Wunder. Der sieht nicht aus, als würde er sich oft besaufen.»
Rosina stand auf und folgte Jakobsen zu dem letzten Gast. Die Kerze war verloschen, und sie konnte nur einen dichten dunklen Haarschopf erkennen, der auf einem ausgestreckten Arm auf dem Tisch lag. Jakobsen brachte eine neue Kerze, leuchtete in das halb verdeckte Gesicht, und Rosina erkannte ihn sofort. Lukas Blank, einen Krug Branntwein im Bauch, zarte dunkle Bartstoppeln am rosigen Kinn, hatte selbst im Schlaf den Ausdruck eines Kindes, das sich im Moor verirrt hat.
Alle Versuche, ihn aufzuwecken, scheiterten. Er öffnete wohl die Augen, als Rosina ihn an der Schulter rüttelte, er sah sie an, als sei sie ihm seit langem vertraut, obwohl sie einander tatsächlich nur sehr flüchtig begegnet waren. Sein Gesicht verzog sich, ob zu einem Lächeln oder einem Weinen, war schwer zu entscheiden, er murmelte ein paar Worte, Rosina glaubte «Loretta» und «nie wieder» verstanden zu haben, aber das war nicht sicher. Und auch nicht von besonderer
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