Lost Girl. Im Schatten der Anderen
sei.«
»Aber wie könntest du überleben? Du warst noch nie auf dich allein gestellt. Wer würde dir helfen? Jeder, der es täte, würde bestraft werden. Und diese Probleme sind nichts im Vergleich zu dem, was die Meister mit dir anstellen, wenn sie von deiner Flucht erfahren, und das werden sie …«
»Du müsstest mir nicht helfen. Ich würde auch Mina Ma und die anderen nicht um Hilfe bitten, es wäre viel zu riskant für sie. Sie haben in meiner Kindheit schon genug für mich getan.« Ich schlucke. »Aber ich glaube, ich könnte es schaffen. Wenn ich es schlau anstellte und schnell genug wäre, hätte ich eine Chance.«
»Aber die hast du nicht«, sagt Sean leise.
»Nein.« Der Kloß in meinem Hals wird dicker. »Die habe ich nicht. Die werde ich nie haben.«
Es wäre mehr als riskant, jetzt mein Leben aufs Spiel zu setzen, um dem Schlafbefehl zu entkommen. Wenn ich den Sender irgendwie loswerden und fliehen könnte und die Späher mich dann trotzdem fänden, würde man mir den Prozess machen. Dann hätte ich die mir noch bleibende Zeit verschenkt. Aber wenigstens wäre ich selbst daran schuld, weil ich das Risiko eingegangen wäre. Es wäre meine Entscheidung und nicht Amarras.
»Tut mir leid«, sagt Sean.
Ich wende mein Gesicht ab, damit er meinen Kummer und meine Verzweiflung nicht sieht. Wir schweigen so lange, dass ich mich schon frage, ob wir überhaupt noch wissen, wie man Laute formt.
Ich räuspere mich und zwinge mich zu einem Lächeln. »Hast du Lust auf eine Partie Schach? Wir haben schon lange nicht mehr gespielt.«
»Und es ist noch länger her, dass du mich besiegt hast«, neckt er mich.
Also spielen wir. Ich gewinne die erste Partie, aber über den Sieg kann ich mich nicht richtig freuen. Denn ich weiß, dass in Wirklichkeit ich der König bin, der schachmatt gesetzt wurde.
Bis ein unerwarteter Zug alle Figuren vom Spielbrett fegt.
»Also gut«, sagt Sean, »wenn du ein Leben auf der Flucht riskieren willst, werde ich dich nicht daran hindern.«
»Vergiss es. Die finden mich, noch bevor ich die Stadt verlassen habe. Matthew weiß zu viel. Und ich trage den Sender …«
»Der Sender ist das Einzige, was dich in den letzten Wochen noch von der Flucht abgehalten hat«, fällt Sean mir ins Wort. »Aber du könntest ihn loswerden, wenn jemand dir sagen könnte, wo er steckt. »
»Ja, aber wer sollte das sein?«
»Deine Vormunde«, sagt er. »Einer wäre dazu auch bereit.«
Und so wird aus Schachmatt! auf einmal nur noch Schach! und ein Ausweg, ein Hoffnungsschimmer tut sich vor mir auf.
3. Flucht
D ie Kaffeetasse zittert so sehr in meinen Händen, dass ich sie abstellen muss. Mit einem ungläubigen Kopfschütteln starre ich Sean an. »Du würdest es tun? Meinen Sender herausnehmen?«
»Ja.«
»Aber die Meister würden wissen, dass du es warst. Sie würden herausfinden, dass du hier warst und mir geholfen hast, und dann bekommst du solche Schwierigkeiten …«
»Nur wenn sie mich finden.«
»Bitte?«
»Wenn ich auch fliehe, finden sie mich nicht.«
»Was soll das heißen?«
»Du hast selbst gesagt, Eva, dass wir es gemeinsam schaffen können.«
»Aber du hast dein eigenes Leben …«
»Aber das ist nichts gegen ein Leben mit dir.«
Ich stehe auf. Immer noch tun mir sämtliche Muskeln weh, aber ich achte nicht darauf, sondern funkel Sean böse an. »Du hältst mich offenbar für schrecklich egoistisch oder schrecklich dumm«, sage ich. »Das kommt nicht infrage. Du bedeutest mir zu viel. Ich verbiete dir …«
»Das kannst du nicht.« Sean lächelt schief. »Notfalls folge ich dir einfach.«
Ich verlagere mein Gewicht auf die Fußballen, denn der Boden, auf dem ich stehe, scheint zu wanken. Ich zögere wie ein Vogel vor der offenen Käfigtür. Der endlose Himmel lockt mich und ängstigt mich zugleich.
»Es ist nämlich so«, sagt Sean und seine Augen sind sehr grün und traurig, »dass ich für dich alles tun würde.«
Mein Herz setzt einen Schlag aus und ich zwinkere ein-, zweimal heftig. Was soll ich darauf erwidern?
»Mir wäre trotzdem lieber, du würdest es nicht tun.«
»Und mir wäre lieber, du müsstest nicht fliehen«, entgegnet Sean. »Einem Echo, das die Flucht gewagt hat, verzeihen die Meister nie. Aber hierzubleiben kann dich auch nicht retten.«
Verzweifelt suche ich nach einem Argument. »Wenn ich erwischt werde, kann ich mit den Folgen leben. Aber du? Das kann ich nicht von dir verlangen.«
Sean hebt die Augenbrauen. »Du verlangst ja gar
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