Lost Girl. Im Schatten der Anderen
aber wir hatten keine Idee, wie wir sonst ohne großes Aufsehen wegkommen sollten. So haben wir das Land vielleicht schon verlassen, bevor jemand merkt, dass wir nicht mehr zurückkommen.
»Meine Nenneltern würden mich nicht zurückhalten«, habe ich zu Sean gesagt. »Sie haben sogar vorgeschlagen, ich solle untertauchen. Jedenfalls werden sie uns nicht stoppen, wenn sie Verdacht schöpfen.«
Jetzt zwinge ich mich, Neils Blick zu erwidern und etwas Unverfängliches zu sagen. »Sean will noch ein Souvenir für seine Mutter kaufen.«
»Dann viel Spaß«, sagt Neil. »Eine wenig frische Luft wird dir guttun.« Er zögert, dann sagt er: »Aber pass auf dich auf, Eva.«
»Das tun wir«, versichert Lekha ihm.
Ich lächle angestrengt. Lekha fasst mich am Ellbogen und führt mich die Treppe hinauf. Sobald wir außer Sicht- und Hörweite sind, sieht sie mich in Panik an und umklammert meinen Arm fester.
»Willst du das wirklich durchziehen?«
Ich nicke.
»Eva …«
»Du kannst mich immer finden«, verspreche ich, obwohl ich weiß, wie gefährlich ein Treffen wäre und dass wir uns wahrscheinlich nie mehr sehen werden. »Wenn du mit der Schule fertig bist und in der Welt herumreist, komm mich besuchen. Ich gebe dir Bescheid, wo ich bin. Du brauchst dich gar nicht groß von mir zu verabschieden, wir werden uns sowieso wiedersehen.«
»Das hoffe ich doch«, sagt sie leise.
Wir gehen in Amarras Zimmer und erschrecken, denn vor uns steht Nikhil und starrt die beiden Taschen auf dem Boden an.
»Ich habe ihm gesagt, dass es meine sind«, sagt Sean ruhig. Er sitzt am Fenster und hat die Ellbogen auf die Knie gestützt. »Aber er glaubt mir nicht.«
»Die gehört dir«, sagt Nik zu mir und zeigt auf die dunkelgrüne Reisetasche, deren Reißverschluss mit einem Schloss gesichert ist. »Du hast sie damals mitgebracht.«
»Nik …«
»Gehst du weg?«
Es ist nur eine Frage, ich muss ihm die Wahrheit nicht sagen. Ich sehe ihm fest in die Augen, auch wenn es mir unendlich schwerfällt. »Ja«, sage ich, »ich gehe weg. Ich muss.«
»Wegen der Jägerin?«
»Sozusagen. Aber es gibt noch andere Gründe. Ich glaube nicht, dass ich meinen achtzehnten Geburtstag überlebe, wenn ich hierbleibe. Die Meister werden mich holen.«
Nikhil denkt nach, verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Dann nickt er knapp.
»Aber vielleicht … also in ein paar Jahren … wenn wir älter sind … könnten Sasha und ich dich besuchen? Wir finden dich bestimmt …«
»Das würde mich freuen«, sage ich leise. »Sogar sehr.«
Ich küsse ihn auf die Stirn. Nikhil ist fast so groß wie ich und ein wunderbarer Mensch. Meine Brust ist wie zugeschnürt. Ich kenne ihn und Sasha schon ihr ganzes Leben lang. Auf Video habe ich die ersten Schritte der beiden verfolgt, ich habe sie lachen gehört und lange Zeit so getan, als hätte ich sie lieb. Irgendwann wurde daraus ein echtes Gefühl. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ein kleiner Teil von mir hierbleiben will. Dass ich die beiden jetzt schon vermisse.
Nik geht und ich lasse die angehaltene Luft entweichen. »Ich weiß nicht, wie ich das Mittagessen überstehen soll.«
»Du weißt es nicht?«, fragt Lekha. »Und ich? Ich bin die Verbündete. Und du weißt, was mit Verbündeten passiert!«
»Apropos«, sage ich. »Hier.« Ich gebe ihr ein zusammengefaltetes Blatt Papier. »Du kannst es lesen, wenn du willst, es ist für meine Nenneltern. Kannst du es ihnen geben, nachdem du uns am Flughafen abgesetzt hast?«
Lekha steckt den Brief in ihre Handtasche. Ich habe lange gebraucht, ihn zu schreiben. Im Grunde wusste ich nicht, was ich sagen sollte.
Es tut mir leid, dass ich gehe, ohne mich zu verabschieden.
Danke, dass ich in den vergangenen zehn Monaten hier bei euch wohnen durfte und ihr euch um mich gekümmert habt, vor allem nach dem Überfall. Das war lieb von euch und ich hoffe, dass es euch allen gut geht. PS : Auch Sean bedankt sich, dass er hier wohnen durfte, auch ihm tut es leid, dass er ohne Abschied geht. Er findet es unhöflich, aber es ist besser so.
Neil ruft uns zum Essen. Sean und Lekha gehen nach unten, ich steige zum Dachboden hinauf, um Alisha zu sagen, dass wir essen können. Als ich das Atelier betrete, bemerke ich die Veränderung sofort. An der Wand hängt an einem Haken ein Flügelpaar aus schwarzen Federn. Meine Flügel. Für das Echo, das ewig leben wollte.
»Sie sind noch nicht fertig«, sage ich verlegen.
Alisha schüttelt den Kopf. »Dinge müssen
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