Lost Girl. Im Schatten der Anderen
Mutter.«
Natürlich hat Sean meine Gedanken schon wieder erraten. »Wir können niemanden besuchen«, sagt er leise. »Sobald die Meister von unserer Flucht erfahren, werden sie alle überwachen, an die wir uns ihrer Meinung nach wenden könnten.«
»Ich weiß schon!«, sage ich gereizt und schlucke meine Enttäuschung hinunter. »Es war nur so eine schöne Vorstellung.«
Ich betrachte meine Hände, verfolge die Linien auf der Handfläche. Alles hat Folgen. Man kann einen Krieg nicht gewinnen, ohne Opfer zu bringen. Der Preis des Überlebens könnte sein, dass ich Mina Ma, meine Vormunde, Nik, Sasha und Lekha nie wiedersehe.
»Und wenn wir das Schließfach ausgeräumt haben?«, frage ich. »Können wir uns dann Pässe beschaffen, von denen die Meister nichts wissen?«
Sean nickt. »Klar. Ich schicke nur schnell meinen Verbündeten in der Unterwelt eine E-Mail.«
Ich starre ich böse an. »Manchmal könnte ich dir wirklich eine runterhauen.«
Er lächelt mich reumütig an.
»Tja«, sage ich und gebe die Idee mit den falschen Pässen auf, »das klingt, als könnten wir im Moment nicht allzu viel planen.« Sean sieht unglücklich aus und ich widerstehe der Versuchung, ihn darauf anzusprechen. »Sean, auch wenn du es nicht ertragen kannst, dass nicht alles schon im Voraus geregelt ist, wir wissen nicht, was uns erwartet. Wir müssen überlegen, was wir als Nächstes tun wollen. Den Rest überlegen wir, wenn es so weit ist.«
»Gut. Wir brauchen also einen Flug nach England. Die Londoner Flughäfen sollten wir vermeiden und stattdessen nach Manchester fliegen.«
Während Sean auf Amarras Computer nach Flügen sucht, überlege ich, wie wir zum Flughafen kommen. Ich nehme Amarras Handy und wähle Lekhas Nummer.
»Hey«, flüstert sie als Begrüßung, »hast du wieder Schwierigkeiten?«
»Ich …«
»Nein, sag nichts! Sonst merken die doch, dass wir unter einer Decke stecken. Wir brauchen ein Codewort! Ich hab’s! Wenn die Jäger vor der Tür stehen, sagst du ›Schnürsenkel‹. Und wenn es Ray ist, dann …«
»Abgesehen davon, dass das absolut albern ist«, sage ich und unterdrücke ein Kichern, »warum flüsterst du eigentlich?«
Lekha lacht. »Keine Ahnung, schien mir irgendwie passend. Du bist also nicht in Schwierigkeiten?«
»Nicht akut.«
»Wenn das überzeugend klingen sollte, war das ein ziemlich erbärmlicher Versuch.«
Ich muss lächeln. »Weißt du noch, dass du mir erzählt hast, wie deine Mutter dir das Autofahren beigebracht hat?«
»Überhaupt nicht«, sagt Lekha fröhlich. »Aber wenn du dich daran erinnerst, werde ich es dir wohl erzählt haben. Ich war damals fast noch ein Kind.«
»Bitte sag, dass du seitdem geübt hast.«
»Ein paarmal.«
»Wie oft ist das?«
»Einmal.« Lekha schnaubt verächtlich. »Nicht dass es in dieser Stadt jemanden interessieren würde, ob man einen Führerschein hat – ich halte mich nur gern an die Vorschriften …«
»Glaubst du, du könntest für mich eine Ausnahme machen?
Eine Pause entsteht. »Mein Gott, sie haben dich also doch erwischt, ja?«, witzelt Lekha. »Liegst du schon wieder in einer Blutlache auf dem Boden? Soll ich dich abholen?«
»Nein, ich bin zu Hause. Aber ich gehe bald fort, am Wochenende. Und ich könnte deine Hilfe brauchen.«
»Ich wusste gar nicht, dass du Auto fährst, Lekha«, sagt Neil und sieht an ihr vorbei auf den alten Zen, der vor dem Eingangstor parkt.
Lekha strahlt ihn an. »Doch, ich fahre jetzt.«
»Mit Führerschein?«, fragt Neil zweifelnd.
»Also …«
»Egal«, sagt er. »Je weniger ich weiß, desto weniger mache ich mir Sorgen.«
Ich winke Lekha von der obersten Treppenstufe aus zu. Mein Magen ist ein einziger Knoten. Lekha ist wie immer fröhlich, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das nur spielt. Sie hat keinen Moment gezögert, als ich sie um Hilfe gebeten habe. Allerdings scheint sie Seans Ansicht zu teilen, dass eine Flucht eher tödlich enden, als mir das Leben retten wird.
Neil schließt die Tür hinter ihr. »Du bleibst hoffentlich zum Mittagessen. Wir haben viel zu viel gekocht.«
»Oh, wirklich? Es riecht köstlich!« Lekha wendet sich an mich. »Was meinst du?«, fragt sie munter. »Sollen wir zuerst essen und dann in die Stadt fahren?«
Neil sieht mich überrascht an. »Ihr wollt in die Stadt?«
Seit dem Krankenhausaufenthalt habe ich das Haus nicht mehr verlassen. Zwar fürchte ich, mein plötzlicher Sinneswandel auszugehen, könnte Neil oder Alisha misstrauisch machen,
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