Lost Girl. Im Schatten der Anderen
schwöre, ich bringe dich um.«
Ich sehe, wie Ray die Hände zu Fäusten ballt. Seans Augen verengen sich zu Schlitzen. Hastig stehe ich auf und verliere dabei fast das Gleichgewicht.
»Soll das ein Witz sein?«, rufe ich. Ich weiß genau, wie patzig diese Worte aus meinem Mund klingen. »Ihr wollt euch prügeln? Hier?«
»Eva …«
»Ich will, dass du gehst, Ray«, falle ich ihm ins Wort. Ich bin todmüde.
Ray fügt sich, obwohl ich spüre, dass er es eigentlich nicht will. Die Empörung weicht aus seinem Gesicht und er nickt. An der Tür bleibt er stehen und dreht sich noch einmal um. »Ich meine es wirklich ernst. Du kannst dir nicht vorstellen, wie leid mir alles tut.«
Er geht und ich sinke zu Boden und unterdrücke ein Schluchzen. Sean setzt sich neben mich. Ich lege den Kopf auf sein Knie und atme tief ein und aus. Ich will keine Angst mehr haben, will nicht ständig gekränkt werden. Ich möchte endlich mein Leben selbst in die Hand nehmen. Etwas muss sich ändern.
Wenig später nicke ich wieder ein, aber ich schlafe unruhig. Ich fahre aus dem Schlaf hoch und sehe mich ängstlich nach Sean um. Er ist noch da und sitzt auf dem Stuhl am Fenster. Neben ihm steht ein Tablett mit belegten Broten und kaltem Limonensaft.
»Deinem Bein scheint es besser zu gehen«, sagt er. »Du bist ja gerade praktisch aus dem Bett gesprungen.«
»Es fühlt sich etwas besser an.«
Sean gibt mir ein Sandwich. »Iss.«
Ich esse.
»Ich würde dich gern mit zurücknehmen, wenn ich könnte«, sagt er aus heiterem Himmel und mein Herz setzt einen Schlag aus. »Sonst drehe ich vor lauter Sorge um dich noch durch. Würdest du mitkommen? Wenn du könntest?«
»Ich wünsche mir nichts sehnlicher, das weißt du.«
Er seufzt. »Ich habe die ständigen Sorgen so satt. Seit Monaten geht das jetzt so. Ich frage mich unablässig, ob dir auch nichts passiert ist, ob es dir gut geht. Ich habe mir sogar Sorgen darum gemacht, ob du mit ihm zusammen bist oder nicht. Wie kindisch ist das denn?«
»Warst du vielleicht eifersüchtig?«, frage ich grinsend.
»Iss dein Sandwich auf«, bekomme ich nur zur Antwort.
Das tue ich auch.
Mitte Juni kann ich mein Bein wieder belasten und normal gehen. Zwar ist mein Handgelenk noch in Gips, aber ansonsten bin ich wieder einigermaßen hergestellt. Manchmal will ich ein bisschen schauspielern, damit Sean länger bleibt. Aber das wäre nicht fair ihm gegenüber. Er hat ein eigenes Leben, aber nicht hier.
Und mein Leben? Ich muss darum kämpfen. Frankensteins Geschöpf hat unsäglich schreckliche Dinge getan, aber es hat seinen herzlosen Schöpfer besiegt.
Das muss ich auch.
»Ich wünschte, wir könnten zusammen weglaufen«, sage ich zu Sean. »Einfach verschwinden. Ich glaube, zusammen würden wir es schaffen. Wenn du bei mir wärst, würde ich mich nicht ständig in Schwierigkeiten bringen. Und du hättest mit mir mehr zu lachen. Wir wären wie Cathy und Heathcliff oder Harry und Hermine. Oder wie Liam und Noel.«
»Ich wusste gar nicht, dass du Oasis magst.«
»Aber du magst sie doch. Du hast ihre CD immer gespielt, wenn es spät wurde. Dann bist du auf dem Sofa eingeschlafen und ich habe den CD -Spieler ausgeschaltet.«
»Hm, ich weiß nicht, ob die beiden ein gutes Beispiel sind«, meint Sean und reicht mir einen Kaffee. »Die anderen übrigens auch nicht. Keins dieser Paare ist wirklich zusammengeblieben.«
»Das spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, was sie zusammen geschafft haben. Wenn wir zusammen wären, könnte uns niemand aufhalten.«
»Gut möglich«, sagt Sean. »Du und ich, wir könnten die ganze Welt auf den Kopf stellen.«
Ich wende meinen Blick nicht von ihm ab, bis auch er mich plötzlich mit großen Augen ansieht. Sein Gesicht spiegelt mein eigenes Erstaunen. Ich denke das Undenkbare.
»Du weißt, dass es unmöglich ist«, sagt er.
Ich nicke. »Aber wenn es möglich wäre«, sage ich, »würde ich es tun, das schwöre ich dir. Ich würde von hier weggehen, ohne mich noch einmal umzudrehen.«
In diesen Worten liegt eine solche Freiheit. Für einen kurzen Augenblick fliege ich hoch am Himmel zwischen Sternen und leuchtenden Planeten.
»Ich würde verschwinden. Eines Nachts, vor der Morgendämmerung, zack! Wie durch Zauberei.«
Sean lächelt ein wenig. »Wohin würdest du gehen?«
»Egal. Ich habe noch dieses Schließfach, das Erik und die anderen für mich eingerichtet haben. Vielleicht ist da Geld drin. Erik meinte, es könnte mir helfen, wenn ich in Not
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