Lost Girl. Im Schatten der Anderen
Meisterei wird seitdem an seine Nachkommen vererbt. Aber wer war Henry Willow? Ich fahre mit den Fingern über die Buchstaben und mir ist, als würde ich ihn verstehen. Wer immer er war, er war wie wir hier gefangen. Wie lange müsste man mich in diesem kalten, vergessenen Zimmer einsperren, bis auch ich meinen Namen in den Stein ritzen würde, damit ich ihn nicht vergesse?
Fröstelnd kehre ich zum Bett zurück, hocke mich wieder neben Sean und schmiege mich an ihn, um mich zu wärmen. Er legt seinen gesunden Arm um mich.
»Es sieht nicht gut aus«, sagt er sachlich.
Ich antworte nicht. Ich weiß nicht, wie wir beide fliehen könnten. Aber ich weiß, dass die Meister nur mich töten wollen. Sean muss irgendwie von hier fortkommen.
Ein Geräusch ist zu hören und mein Magen krampft sich zusammen. Wir erstarren und lauschen. Hinter der schweren Tür ertönen Stimmen. Ich drücke mich noch enger an Sean und spanne die Muskeln an, um jederzeit aufspringen und angreifen zu können. Knarrend geht die Tür auf. Ophelia erscheint und bleibt nervös abwartend in der Türöffnung stehen.
»Warum war noch kein Arzt da?«, fragt sie jemanden, den ich nicht sehe. Sie klingt besorgt. »Sieh sie dir an!«
Ophelia tritt ein, bleibt aber abrupt stehen, als sie unsere Gesichter sieht.
»Starrt mich nicht so an«, sagt sie leise. »Ich wollte doch nicht, dass sie euch wehtun. Sie wollten es selbst nicht, aber sie haben ihre Vorschriften. Sie mussten euch stoppen. Ach Eva, ich wollte dich nicht verraten, aber hier bist du sicherer. Warum kannst du das nicht verstehen?«
»Weil es nicht stimmt. Ich war draußen sicherer«, sage ich wütend. »Weit entfernt von den Meistern. Warum verstehst du das nicht?«
»Du weißt, was ich meine, Sean, nicht wahr? Ich konnte Eva nur auf diese Weise schützen!«
»Schützen?«, wiederholt Sean empört. »Warum schützt du sie nicht vor den Meistern, Ophelia?«
Ophelia schüttelt abwehrend den Kopf. »Aber das brauche ich doch nicht! Wenn es zur Verhandlung gegen Eva kommt, werden die Meister für ihre Rettung stimmen, du wirst sehen.«
»Die Meister haben noch nie jemanden verschont …«
»Ich habe meinen Vater gefragt«, sagt Ophelia. »Er weiß, wie wichtig du für mich bist, Eva. Er sagte, er würde dafür sorgen, dass dir nichts passiert, solange du vernünftig bist. Und das wirst du doch sein, nicht wahr?«
»Ophelia«, sagt Sean, »dein Vater wird Eva nicht retten!«
»Ich bin sicher, dass er es tun wird!«
»Ich war sicher, du würdest mich nicht verraten«, sage ich leise. »Wie man sich täuschen kann …«
Ophelias Augen füllen sich mit Tränen, und so verrückt es klingt, ich habe auf einmal ein schlechtes Gewissen. »Ich wollte doch nur, dass du in Sicherheit bist«, sagt sie. »Es tut mir leid, wenn ich dein Vertrauen verletzt habe, und es tut mir leid, wenn du mich jetzt schrecklich findest, aber … ich habe getan, was ich für das Richtige hielt! Ich habe dich nicht angelogen, ich wollte dir wirklich helfen. Ich habe dich doch lieb.« Sie holt tief Luft. »Du wirst das noch einsehen. Er will mit dir sprechen und kommt gleich her.«
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Warum sollte Adrian Borden mit mir sprechen wollen?
Ophelia wirft einen Blick in den Gang. »Da ist er ja.«
Ein Schatten fällt durch die Tür.
Ein Mann steht dort, ungefähr so alt wie Matthew und Erik, Ende fünfzig. Vollkommen bewegungslos verharrt er da, aber es ist die konzentrierte Ruhe eines Raubtiers. Sein Hemd ist zerknittert, er trägt Socken, aber keine Schuhe, und seine Haut ist wie im Fieber gerötet, was mich an Frankenstein denken lässt, der ohne Pause arbeitet, um das Unmögliche zu schaffen. Wörter schwirren mir durch den Kopf. Grabschändung, Gerüchte, fixe Ideen. Ich verdränge sie, hebe den Kopf und blicke in Adrian Bordens goldene Augen.
Adrian wirkt ruhig, aber seine Stimme erinnert mich an Donner, komprimierten Donner. Ich bekomme Angst vor dem Moment, in dem sich dieser Donner entlädt.
»Bring den Jungen ins Nachbarzimmer«, sagt Adrian. »Ich will allein mit dem Mädchen sprechen.«
Sean und ich rühren uns nicht.
Adrian schnaubt ungeduldig. »Los.«
Einer der beiden Wächter kommt herein, der Späher mit den Narben und den blauen Augen, Theseus. Ich tue mein Bestes, ihn nicht zu hassen. Er kennt kein anderes Leben.
»Komm bitte mit«, sagt er höflich.
»Geh mit ihm, Sean«, fleht Ophelia. »Um Evas willen. Adrian will nur mit ihr reden.«
Sean hört ihr
Weitere Kostenlose Bücher