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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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räuspert sich. »Sie waren richtig nett, haben sich vorgestellt und alles. Sie sind mit mir sogar noch einmal zurückgegangen, um unsere Taschen zu holen. Die Bahnhofsangestellten waren schon misstrauisch, weil wir sie einfach stehen lassen haben und weggerannt sind. Sie haben schon überlegt, ob es sich um eine Bombe handelt und sie ein Entschärfungskommando alarmieren sollen.«
    Mutlosigkeit überkommt mich. »Ich habe dich im Auto nicht gesehen, ich konnte meinen Kopf nicht drehen. Ich hatte gehofft, du wärst ihnen entkommen.«
    »Als Theseus dir die Spritze in den Arm stach, habe ich aufgehört, mich zu wehren«, sagt Sean. »Ich wollte dich nicht mit denen allein lassen.«
    »Du hättest weglaufen sollen.«
    Sean rollt mit den Augen. »Du bist ein Idiot, wenn du glaubst, dass ich das tue.«
    Er sieht so schlimm aus, wie ich mich fühle. An einer Schnittwunde an seinem Arm klebt geronnenes Blut, die übrige Haut, so weit sie nicht von Kleidern bedeckt ist, ist mit Schnitten und Kratzern übersät.
    Ich befühle vorsichtig mit der Hand meinen Kopf und spüre, dass meine Haare mit getrocknetem Blut verklebt sind. Ich warte darauf, dass ich in Panik gerate, aber ich spüre nur Erschöpfung. Wir sind verloren.
    Wir sitzen wir auf einem Bett. Der Raum, in dem wir uns befinden, hat steinerne Wände und ein Fenster und ist rund, wie das Zimmer in einem Turm. Er ist keine Gefängniszelle, fühlt sich aber mit dem schmalen Bett, dem kleinen Fenster und der schweren Holztür genauso an. Meine Stiefel stehen auf dem Boden.
    »Was hat er mir gespritzt?« Ich richte mich vorsichtig weiter auf und lehne mich an die Wand hinter dem Bett. »Dieser Theseus?«
    »Offenbar eine Art Serum, das Adrian entwickelt hat. Es verursacht eine kurzzeitige Lähmung.«
    Ich erschauere. »Es war schrecklich. Als ob man in einem Käfig gefangen ist und schreit und strampelt, ohne dass einen jemand hört.« Ich lecke mir die trockenen Lippen. »Wenigstens sind wir noch zusammen.«
    Sean lächelt fast. »Sie wollten uns trennen, aber da habe ich einen solchen Aufstand gemacht, dass sie uns zusammen in dieses Zimmer gesteckt haben.«
    »Du siehst schlimm aus.«
    »Du auch. Richtig zum Fürchten.«
    Wir lachen beide das leicht hysterische Lachen zweier zum Tode Verurteilter.
    »Wirklich?«, frage ich. »Du siehst irgendwie sexy aus.«
    »Abgekämpfte Typen voller Blut machen dich also an, ja? Und ich dachte immer, mein Verstand und Charme würden ausreichen.«
    Ich lächle. »Keine Sorge, ich fand dich vorher auch schon sexy.«
    Sean wird ein wenig rot, doch dann grinst er schief. »Ich wollte, ich könnte dasselbe von dir sagen, aber du machst mich mit halb eingeschlagenem Schädel definitiv mehr an.«
    Die besorgten Augen passen nicht zu seinem Witz und das Lachen vergeht uns schon wieder. Ich spüre, wie die Kälte in mich kriecht.
    »Sind wir in der Meisterei?«
    Sean nickt.
    Ich habe einmal Fotos von der Meisterei gesehen, nicht von einem Raum wie diesem, aber von außen, so, wie sie von der Straße her aussieht, halb verborgen hinter den Grünanlagen. Es handelt sich um ein lang gestrecktes Gebäude mit spitzen Türmchen und Kaminen und einem großen Turm am westlichen Ende. Die Meisterei sieht aus, als wäre sie erst von einer Kathedrale zu einem Opernhaus geworden und schließlich zum Zuhause eines adligen Herrn, der seine verrückte Frau in den Turm gesperrt hat.
    Bitterkeit steigt in mir hoch und ich zwinge mich aufzustehen. Mein Kopf fühlt sich unendlich schwer an. Ich stolpere zum Fenster und atme die saubere Luft ein. Danach geht es mir ein wenig besser und ich betrachte das Panorama von London. Da man die vielen neuen, stromlinienförmigen Hochhäuser von hier aus nicht sieht, wirkt die Stadt uralt. Ich kehre in die Vergangenheit zurück, in eine Zeit, in der streunende Kinder sich in den schimmernden Fluss stürzten, Kaminfeger durch den Schmutz krochen und die Meister und Jäger ihren Krieg um Leben und Tod eröffneten.
    Ich will mich gerade wieder an Sean wenden, da fällt mir etwas auf: In den Fenstersims hat jemand Buchstaben gekratzt. Ich versuche sie zu entziffern und erkenne bald, dass es sich um einen Satz handelt, der einige Male wiederholt wird. Ich bin Henry Willow. Ich bin Henry Willow. Ich bin Henry Willow. Wer war das? Ich suche nach Inhalten längst vergangener Unterrichtsstunden mit Erik. Der erste Meister der Meisterei war meines Wissens ein gewisser Henry Borden. Er hat die ersten Echos geschaffen und die

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