Lost Girl. Im Schatten der Anderen
Tür, die aufgeht, als ich am Griff drehe. Ich weine fast vor Erleichterung.
Hastig trete ich ein und schließe die Tür leise hinter mir. Sie hat kein Schloss, aber egal. Es muss auch so gehen.
Jeder Atemzug schmerzt wie ein Nadelstich, und ich lehne mich mit dem Rücken gegen die Tür, um zu verschnaufen. Mein Atem geht rasselnd wie der eines alten Mannes. Tief atme ich ein und aus, immer langsamer, bis ich die Nadel nicht mehr spüre.
Etwas streicht an meiner Wange entlang und ich kann gerade noch einen Aufschrei unterdrücken, doch es ist nur eine schmutzige graue Spinnwebe, die sich offenbar beim Öffnen und Schließen der Tür gelöst hat.
Das Zimmer sieht aus, als hätte es seit Jahren niemand mehr betreten, auch nicht zum Saubermachen. Ich betrachte die Möbel, die nur als dunkle Schatten zu erkennen sind, und die Spinnweben, die wie Henkersschlingen von der Decke herunterbaumeln.
Nach und nach gewöhnen sich meine Augen an das Dunkel und ich sehe die Umrisse eines Fensters an der gegenüberliegenden Wand. Es ist groß und tief und mit Jalousien verschlossen, aber dahinter sehe ich den Mond durchscheinen. Durch das Fenster komme ich nach draußen. Vorsichtig taste ich mich durch das Zimmer, stoße aber gegen einen Gegenstand. Wieder unterdrücke ich einen Schrei. Ich will den Gegenstand festhalten, damit er nicht umfällt und jemand den Lärm hört. Er schaukelt hin und her.
Ein Kinderbett. Ich taste danach.
Eine Wiege? Für ein Baby?
Ich stolpere zur Wand und taste nach einem Lichtschalter. Nach einer Weile finde ich ihn und drücke darauf. An der Decke geht flackernd eine Lampe an, die alles beleuchtet: die Spinnweben, die schaukelnde Wiege, die Uhr, die dicke Staubschicht auf allem, den verwahrlosten Eindruck, den das Zimmer macht, und die Wände. Die Tapete ist grün, hellgrün und ausgeblichen.
Ich stehe in einem Kinderzimmer. Meinem Kinderzimmer.
In meinem Kopf dreht sich alles und ich muss mich an der Wand abstützen. Für einen Moment verschwinden Staub und Spinnweben und das Zimmer ist sonnig und voller Spielsachen. Ich trage einen gelben Schlafanzug und jemand schaukelt die Wiege hin und her. Es gibt dieses Zimmer also tatsächlich. Ich habe nach meiner Erschaffung kurze Zeit hier gelebt. Matthew hat mich in den Schlaf gewiegt, mir Lieder über Städte vorgesungen und einmal hat der verbitterte, gelangweilte Meister gelacht. Hat er mich geliebt? Weil er mich erschaffen hat, für Alisha? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass er gelacht hat. Ich habe es nicht nur geträumt, es ist wirklich passiert.
Und dann wurde ich weggebracht, um das mir bestimmte Leben als Echo zu führen. Seitdem hat niemand mehr dieses Zimmer betreten.
»Mein Gott«, sage ich fassungslos in die Stille hinein.
Wenn die Träume aber Wirklichkeit waren, gilt dasselbe auch für die Aufnahme. Alles auf der CD , die Erik mir gegeben hat, ist wirklich passiert. Und nicht nur passiert, sondern in einem tieferen Sinn wahr .
Denn wenn es nicht so wäre, wenn Matthew etwas versprochen hätte, was er sowieso nicht halten wollte, wäre dieses Zimmer längst verschwunden. Wenn es ihm nichts bedeutet hätte, hätte er es neu tapeziert, die Möbel weggeworfen und es für einen anderen Zweck verwendet. Dann hätte er alles vergessen. Aber das Zimmer ist noch da, genau so wie ich es verlassen habe, und das heißt, dass er es nicht vergessen hat. Wenn es das Zimmer noch gibt, gibt es auch noch den Matthew, der versprochen hat, dass er mir hilft, wenn ich ihn brauche.
Wie betäubt stehe ich da. Mein Leben, alle siebzehn Jahre, sehe ich plötzlich vor mir, doch von allem befreit und reduziert auf die Farbe Grün. Grüne Tapete, der grüne Schal einer Dame in einem Geschäft, Mina Mas grüner Sari, grüne Fingerfarben, zertrampeltes Gras unter den Füßen eines Elefanten, ein Luftballon, Seans Augen, grüne Tapete. Mit Grün habe ich angefangen und vielleicht endet auch alles mit Grün. In einem grünen Zimmer bin ich geboren und jetzt bin ich nach all der Zeit zurückgekehrt und muss mein Leben in diesem grünen Zimmer lassen.
Die Uhr schlägt einmal. Es klingt kaputt und verloren, als wärevom Innenleben der Uhr nicht mehr viel übrig. Das Geräusch lässt mich zusammenzucken.
Mein Blick wandert zum Fenster, aber ich wende mich ab. Mein Herz ist wie ein Vogel. Flatternd stößt es gegen die Rippen und will ausbrechen, aber ich schenke ihm keine Beachtung. Ich setze mich in einen alten Schaukelstuhl inmitten des verwahrlosten
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