Lost Girl. Im Schatten der Anderen
damit sie sich nicht von mir losreißen kann. Mit der anderen drücke ich ihr weiter das Messer an die Rippen. Kleine Schweißperlen rinnen mir in den Nacken.
Theseus weicht nicht von der Stelle. Er versperrt mir den Fluchtweg und zieht ebenfalls ein Messer, welches er aber nicht erhoben hält.
»Du darfst den Turm nicht verlassen«, sagt er ruhig.
»Ich halte ein Messer in der Hand!«, rufe ich böse. »Glaubst du wirklich, ich würde es nicht benutzen? Glaubst du, es ist Adrian recht, wenn du aus Gehorsam zu ihm zulässt, dass ich seine Tochter ersteche?«
»Ich tue, was man mir sagt.«
»Aber ich sage dir …«
»Ich tue, was die Meister mir sagen.«
Von Ophelia kommt ein klägliches Stöhnen. Sie sieht so gekränkt und durcheinander aus, dass ich eingelenkt hätte, ginge es nicht um mein Leben. Trotzdem habe ich schwere Gewissensbisse.
»Tu, was sie sagt, Theseus«, bittet sie.
»Das geht leider nicht«, erwidert der Wächter. Seine Stimme klingt merkwürdig schleppend, als wäre er es nicht gewohnt, viel zu sprechen. »Entschuldigung, aber ich kann das Mädchen nicht gehen lassen.«
Ein leises Dröhnen klingt mir in den Ohren. Panik, ein Kribbeln im Kopf. Niemand rührt sich. Ängstlich sehe ich zwischen Theseus und Ophelia hin und her und zwischen dem Messer in meiner Hand und dem in seiner. Theseus verzieht keine Miene. Und ich weiß, dass jetzt nicht die Zeit ist, abzuwarten und nachzudenken. Ich muss handeln, ich muss etwas tun. Ich werfe das Messer auf Theseus. Ich habe nicht auf ihn gezielt und will ihn nicht treffen, ich werfe es nur in seine Richtung und hoffe inständig, dass er trotz seines sklavischen Gehorsams reagiert wie ein Mensch.
So ist es auch. Erschrocken reißt er die Augen auf und weicht zur Seite aus. Er stößt mit dem Rücken an die Wand hinter ihm, das Messer fliegt an ihm vorbei und fällt klappernd die Treppe hinunter.
Ich lasse Ophelia los und renne. Ich bin fast an der Treppe angelangt, da hat Theseus sich gefangen. Sein Messer blitzt auf. Ich komme schliddernd zum Stehen und weiche vor ihm zurück. Der Weg zur Treppe ist versperrt, das Messer verfehlt mich nur knapp.
Vielleicht hätte es sein Gutes gehabt, wenn damit alles zu Ende gewesen wäre. Theseus hätte mich wieder in das Zimmer gesperrt und alles wäre gewesen wie zuvor.
Doch Ophelia sieht das Messer und schreit: »Nein! Tu ihr nicht weh!«
Sie stürzt auf Theseus zu und will ihn aufhalten.
»Nicht …«, brülle ich.
Der Wächter richtet seine Aufmerksamkeit auf Ophelia. Ich versuche mir vorzustellen, was er sieht. Eine Frau, die auf ihn zustürmt. Die Treppe befindet sich unmittelbar hinter ihm. Wenn Ophelia ihn schubst, ihn umrennt, fallen sie beide die Treppe hinunter und brechen sich womöglich das Genick. Also fährt er herum, um sie aufzuhalten, und sein Messer mit ihm. Alles geht blitzschnell. Ich weiß, dass er nicht zustechen will. Das Messer ist einfach nur im Weg.
Ich höre ein grässlich schmatzendes Geräusch. Und ein erschrockenes Keuchen.
Ich schlage mir die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien.
Theseus lässt entsetzt das Messer fallen. Im Licht der Lampe sieht die Klinge fast schwarz aus.
»Ich … ich wollte nicht … ich habe …«
Ich eile an Ophelias Seite. Mina Ma kommt gleichzeitig die Treppe hochgerannt. Sie kann nicht weit weg gewesen sein und muss meinen Schrei gehört haben.
»Bei Shiva, was hast du getan, du dummer Junge?«, ruft sie erschrocken. Sie kniet sich auf den Boden und bettet Ophelias Kopf behutsam in ihren Schoß. »Du!«, fährt sie Theseus wütend an. »Zieh dein Hemd aus! Wir müssen die Blutung stoppen.«
Theseus gehorcht. Mina Ma knüllt das Hemd zusammen und drückt es auf die Wunde. Auf Ophelias Kleid hat sich ein dunkler Fleck ausgebreitet. Sie sieht so klein aus und ihre blonden Haare fallen über meine Hand. Erschrocken und gequält blickt sie mich an. Eine lange Weile vergeht. Dann lächelt sie.
Gleich darauf schließt sie die Augen.
»Nein!«, rufe ich. »Nein, Ophelia!« Ich schluchze laut auf. »Nein!«
Jemand kniet sich neben mich und fühlt nach ihrem Puls, zuerst an ihrem Hals, dann am Handgelenk. Es ist Theseus.
»Verschwinde!« Schluchzend stoße ich ihn weg. »Sie ist verletzt und du bist schuld daran!«
Aber das stimmt nicht ganz. Ich habe Ophelia das Messer an die Rippen gehalten und die Katastrophe dadurch erst ausgelöst. Wir sind beide schuld.
»Es war ein Unfall«, sagt der Wächter heiser. Er hat die blauen Augen weit
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