Lost Girl. Im Schatten der Anderen
schicken, sobald ich bei Sean bin.
Irgendetwas muss ich tun. Lucy hätte die Frau seines Lebens sein können. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Die Vorstellung macht mich wütend, ohne dass ich weiß warum. Aber ich weiß, dass es unfair ist, dass sie ihn meinetwegen verlassen hat.
An der Tür zögere ich und denke darüber nach, was passiert, wenn die Meister von meinem Ausflug erfahren, und an Mina Mas Schrecken, wenn sie aufwacht und ich weg bin. Und daran, dass ich auf eigene Faust nach Lancaster fahren will, obwohl ich allein noch nie weiter als bis zum Seeufer gegangen bin.
Ich schließe für einen Moment die Augen, dann gehe ich nach draußen.
Die Nachmittagssonne glitzert auf dem Wasser. Ich gehe die vertraute Straße entlang und lasse das Haus hinter mir zurück. Das Laub vieler Bäume hat sich bereits rot und orange verfärbt und auf dem großen See schaukeln Ausflugsboote auf und ab, eingerahmt von grünen Hügeln. Ich gehe an der alten Kirche und am Friedhof vorbei.
Die Straße, die zum Bahnhof führt, kommt mir endlos lang vor. Ich folge ihren sanft geschwungenen Kurven unter der Allee hoher, dunkler Bäume, die in der Abendsonne miteinander flüstern. Ein Vogel fliegt krächzend über mich hinweg. Es klingt, als rufe er: »Eva geht fort, Eva geht fort!«
Als ich an einem Laternenpfosten vorbeikomme, muss ich an den Mann mit der alten Landkarte denken. Werde ich auch jetzt von jemandem beobachtet? Wenn der Mann nun doch ein Jäger war?
Ich betrete den Bahnhof und kaufe eine Fahrkarte. Die Frau am Schalter tippt meine Angaben ein. Ich fahre mir mit der Hand in den Nacken und glätte einige widerspenstige Haarsträhnen, damit mein Mal auch wirklich gut versteckt ist. Die Frau reicht mir lächelnd meine Fahrkarte und ich lächle zurück. Ich genieße die Freiheit, ein Mädchen zu sein, nicht mehr und nicht weniger. Der Zug wartet schon und ich steige ein. Als wir mit einem Ruck anfahren, weiß ich, dass ich jetzt nicht mehr umkehren kann. Ich sinke in meinen Sitz und mit einem Mal flattern meine Nerven.
Im Lauf der nächsten Stunde wird es draußen langsam dunkel. Immer wieder sehe ich Lichter von Autos aufblitzen, die über die Autobahn jagen. Über die Hügel wälzt sich der Nebel. Er schiebt sich über Straßen und Bäume und ich runzle angestrengt die Stirn, während ich durch die Scheibe sehe. Ich will nicht daran denken, wie leicht es wäre, nicht mehr zurückzukehren. Wenn ein Echo seinen Anderen ersetzt, pflanzen die Meister ihm einen Peilsender ein, mit dessen Hilfe sie ihn jederzeit orten können. Da ich Amarra bisher nicht ersetzt habe, habe ich noch keinen Sender. Wenn ich wollte, könnte ich fliehen. Sie bräuchten Wochen, um mich zu finden. Wenn sie mich überhaupt je fänden.
Bei meiner Ankunft in Lancaster ist die Sonne untergegangen. Den Weg aus dem Bahnhof und die Straße entlang finde ich problemlos. An Orten, an denen ich schon war, finde ich mich immer zurecht. Ich vergesse nur selten etwas.
Als ich in Seans Straße einbiege, klingelt mein Handy. Mir wird ganz übel. Ich nehme ab und lasse stumm einen heftigen Schwall von Vorwürfen über mich ergehen. Mina Ma ist wütend und ängstlich zugleich, aber als ich ihr sage, dass ich nur noch wenige Meter von Seans Haus entfernt bin, verschwindet die Angst und nur noch Wut bleibt übrig. Sie droht, mich zu erwürgen (»Wer braucht dazu die Meister? Warte nur, bis ich dich in die Finger kriege!«), dann will sie wissen, wie ich nach Hause zu kommen gedenke. Ich sage, mit dem Zug. In einem Ton, dass mir angst und bange wird, entgegnet sie, sie warte auf mich, und legt auf.
Ich stecke das Handy ein und beobachte neidisch zwei Mädchen am anderen Ende der Straße. Sie tragen schöne Kleider und Highheels und sehen aus, als wären sie zu einem Essen oder einer Party unterwegs.
Als ich vor Seans Haus ankomme, bin ich müde und angespannt vor Aufregung. Ich bleibe stehen, versuche mich zu beruhigen und überlege, was ich tun soll, wenn seine Mutter aufmacht.
Aber dann habe ich unerwartet Glück. Bevor ich klopfen kann, geht die Tür auf und Sean steht vor mir. Offenbar hat er gerade geduscht, denn seine Haare sind nass und stehen ihm vom Kopf ab wie schwarze Federn. Sein Kinn ist mit Stoppeln übersät. Er rasiert sich immer erst, wenn er ganz verlottert aussieht. Sein Gesicht ist eine Maske und seine Augen funkeln mich böse an.
»Was zum Teufel hast du hier zu suchen?«, fragt er ganz leise.
Benommen starre ich ihn an. Ich will ihm
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