Lost Girl. Im Schatten der Anderen
noch keine achtzehn?« Ich nicke. »Dann brauchst du die Erlaubnis eines Elternteils.«
»Ich bin die Mutter«, sagt Mina Ma.
»Prima! Dann legen wir gleich los, kommt bitte mit.« Er führt uns in ein Behandlungszimmer und macht die Tür zu. »Das erste Mal?«
»Das zweite«, sage ich.
Das ist nicht einmal gelogen. Ich erinnere mich zwar nicht daran, wie ich das Mal in meinem Nacken bekommen habe, was seltsam ist, weil ich mich sonst eigentlich an alles erinnere, aber ich weiß, dass es da ist, unauslöschlich in meine Haut gebrannt, der Blitz mit dem Schnörkel, der aussieht wie ein kleines »e«. Laut Mina Ma ist dasselbe Zeichen auf dem Tor der Meisterei zu sehen. Es ist das Symbol der Meister.
Tim setzt mich auf einen Stuhl und ich muss ihm das Handgelenk hinstrecken. Er betupft die Haut mit etwas, was stechend und medizinisch riecht, und reibt die Stelle, an die das Tattoo kommt, behutsam mit Vaseline ein.
»Du bist aufgeregt«, sagt er. Wahrscheinlich spürt er meinen rasenden Puls. »Keine Sorge. Wenn es zu sehr wehtut, hören wir sofort auf.«
Das geht natürlich nicht, aber er weiß ja nicht, dass ich mir das Tattoo stechen lassen muss.
Er schaltet die Nadel ein und sie beginnt zu summen. Mina Ma schüttelt sich, aber ihr Gesicht bleibt ruhig. Ophelia hingegen quietscht und Mina Ma stößt ihr den Ellbogen in die Seite. Ich betrachte die Nadel und schlucke. Sie ist riesig. Ich stelle mir vor, dass sie sich bei der kleinsten Berührung gleich in meine zarte Haut frisst.
Aber ich halte scheinbar mehr aus als gedacht, denn als Tim die Tinte in meine Haut sticht, tut es kaum weh. Es ist nicht viel schlimmer, als wenn mir jemand einen Bleistift auf die Haut drücken würde.
»Es geht, oder?«, sagt Tim und lächelt.
Die Nadel zieht Blut, aber Tim wischt es mit einem feuchten Wattebausch geschickt weg.
Ich sehe in seinem Gesicht, wie sehr er in das Foto mit Amarras Tattoo vertieft ist, um es exakt zu kopieren. Er ist ein Künstler und arbeitet auch wie einer, mit vor Konzentration gerunzelter Stirn und absolut ruhigen Händen.
Ich wende mich den Gesichtern meiner Begleiterinnen zu und verweile auf dem von Mina Ma. Ich betrachte ihre Augen, ihre Lippen und ihr Kinn. Es ist seltsam, aber wenn ich sehe, wie stark und standhaft sie ist, fühle ich mich selbst auch viel stärker und sicherer.
Nach zehn Minuten ist alles vorbei. Das Tattoo ist klein, höre ich, nur etwa zweieinhalb Zentimeter lang. Ich sehe es mir nicht an. Als ich das Tagebuch gelesen habe, habe ich das Bild auch immer weit weggelegt.
Tim wischt das letzte Blut und die danebengegangene Tinte weg und erklärt, was ich tun kann, damit das Tattoo schneller heilt. »Wundsalbe verhindert, dass es sich entzündet oder austrocknet«, sagt er. »Trag sie regelmäßig auf. Bei manchen werden die Tattoos schorfig und jucken, aber das kannst du verhindern, indem du es feucht hältst.«
Ich stelle Fragen zur Pflege des Tattoos, damit er weiterredet und ich es nicht ansehen muss. Aber irgendwann lässt es sich nicht länger aufschieben.
Ich hole scharf Luft. Erik hatte Recht. Das Tattoo ist von einer seltsamen Schönheit. Obwohl es eine Schlange zeigt.
Die Schlange hat den Kopf anmutig erhoben und blickt sehnsüchtig zum Himmel auf, als wünschte sie zu fliegen. Ich muss an die Schlange denken, die das Baby beißen wollte, und an den tapferen Mungo, der sie getötet hat. Den Mungo, der deshalb sterben musste. Und jetzt tragen wir, trage ich diese Schlange auf der Haut.
Wir bezahlen Tim, dann führen die anderen mich zum Essen in ein Lokal in der Nähe aus. Ich lege das Handgelenk vorsichtig auf den Tisch und versuche mein Steak einhändig zu essen.
Nach dem Essen fährt Ophelia nach Hause. Mina Ma und ich kehren in unser Haus zurück. Ich überlege, was ich mit dem restlichen Tag anfangen soll. Ohne den üblichen Unterricht habe ich den Nachmittag frei. Ich vergewissere mich, dass Mina Ma im Nachbarzimmer ist, und ziehe eine Schachtel unter dem Bett hervor. Sie ist mit Sachen gefüllt, die ich im Lauf der Zeit gesammelt habe: Papier, alte Zeitungen, Stofffetzen, unbenutzte Kerzen, kaputte Wecker, Federn und Kiesel aus dem See.
Ich schmelze eine Kerze in einer Schale und forme das Wachs, solange es noch warm und weich ist. Mina Ma macht sich gern über meine fahrigen Hände lustig, aber diesmal sind sie ganz konzentriert. Wenn ich zeichne oder sonst etwas herstelle, werde ich ganz ruhig. Eigentlich darf ich es ja nicht. Meine Andere liest in
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