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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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ihrer Freizeit lieber Bücher über Geschichte, oder sie geht mit ihren Freundinnen aus oder hilft ihrem Vater Neil bei seiner Arbeit. Die Wachsfiguren sind mein großes Geheimnis, in das ich nur Sean eingeweiht habe. Die Meister könnten mir auch das wegnehmen. Ich glaube zwar nicht, dass meine Vormünder es ihnen erzählen würden, aber sie sollen diese Entscheidung gar nicht erst treffen müssen.
    Interessanterweise ist Amarras Mutter Alisha Künstlerin. Sie verdient ihren Lebensunterhalt mit Malerei und Bildhauerei. Vielleicht hat diese Leidenschaft Amarra übersprungen und stattdessen habe ich sie geerbt.
    Ich habe meinen Wachsvogel, einen Kranich, gerade fertiggestellt, da höre ich im Nachbarzimmer Mina Mas Schritte. Sie kommt, um nach mir zu sehen. Ich springe rasch auf und gehe ihr entgegen.
    »Was machst du denn die ganze Zeit so still und leise in deinem Zimmer?«, fragt sie.
    »Ich … äh … habe etwas für Sean gemacht.« Was streng genommen nicht gelogen ist. Sean schickt mir unbeschriebene Postkarten und ich schenke ihm kleine selbst gebastelte Dinge, Vögel und Elefanten und so. »Als Dankeschön für den Zoo.«
    »Das ist lieb von dir«, sagt Mina Ma. »Vielleicht muntert es ihn ja auf.«
    Ich sehe sie verwirrt an. »Wieso? Muss er denn aufgemuntert werden?«
    »Hat er es dir nicht gesagt?« Mina Ma sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wie auch immer, ich denke, es ist kein Geheimnis.«
    »Was denn?«
    »Das mit dem Mädchen, mit dem er, wie sagt man noch gleich, gegangen ist. Sie sind nicht mehr zusammen.«
    Ich starre sie an. »Was? Warum nicht?«
    Mina Ma zuckt mit den Schultern. »Ich schnüffle ihm nicht hinterher, Kind. Ich habe ihn nur gefragt, wie es seiner Freundin gehe, und er sagte, sie haben sich getrennt. Sie war offenbar sauer, weil er nicht zu ihrem Geburtstag gekommen ist.«
    »Das hat er dir gestern erzählt?«
    »Kurz bevor er gegangen ist, ja.«
    »Dann ist es meine Schuld!«, rufe ich verzweifelt. »Ich bin schuld, dass es ihm jetzt schlecht geht. Wenn das mit dem blöden Tattoo nicht gewesen wäre und ich mich nicht so aufgeregt hätte, wäre er dieses Wochenende nicht hergekommen.«
    Mina Ma verdreht die Augen. »Sei nicht albern, er wollte doch kommen …«
    »Aber nur, weil ich mich so aufgeregt habe.« Ich fühle mich schrecklich. »Können wir nicht zu ihm fahren? Wir könnten ihm einen Liter Milch bringen und den Kr… also das, was ich gemacht habe. Vielleicht muntert ihn das auf.«
    »Sei nicht albern, Eva.« Mina Ma seufzt. »Wir können nicht einfach unangekündigt bei ihm vor der Tür stehen. Nur weil ich dir einmal erlaubt habe, in den Zoo zu gehen, hat sich nichts geändert. Ruf ihn lieber an oder warte, bis er das nächste Mal hier ist.«
    »Das reicht nicht! Ich kann ihm die Milch nicht durchs Telefon geben, und wenn ich schon sein Leben ruiniert habe, möchte ich es wenigstens irgendwie wiedergutmachen …«
    »Sein Leben ruiniert!« Mina Ma schnaubt. »Bei Shiva, es geht nicht immer gleich um Leben und Tod, nur weil du in der Pubertät bist.«
    Ich blicke sie böse an.
    »Wir können nicht ständig irgendwelche Risiken eingehen«, erklärt Mina Ma bestimmt. »Hast du mich verstanden?«
    Ich zögere einen Moment und sehe sie so schlecht gelaunt an, wie ich nur kann. »Das ist unfair«, jammere ich in meinem weinerlichsten Ton.
    Mina Ma schüttelt den Kopf. Dann steht sie auf und verschwindet zu ihrem Mittagschlaf, offenbar überzeugt, dass ich nur deshalb schmolle, weil ich weiß, dass sie Recht hat.
    Kurz darauf höre ich das verräterische Knarren ihres Bettes. Sofort springe ich auf und eile zum Kühlschrank. Ich hole eine Flasche Milch heraus und stecke sie in eine Plastiktüte. Dann verstaue ich Tüte und Kranich in meiner Tasche und kehre in mein Zimmer zurück. Ich ziehe mir Stiefel über Strümpfe und Leggings, tausche mein löchriges Kleid gegen eins in einem geringfügig besseren Zustand und suche in der Schreibtischschublade die Münzen und Scheine zusammen, die ich über die Jahre gesammelt habe. Ich besitze genau 21 Pfund und 45 Pence, mehr, als ich für den Zug nach Lancaster brauche. Ich weiß das, seit Sean am Samstag die Fahrkarten für uns gekauft hat. Ich stecke das Geld zu den anderen Sachen in die Tasche und nehme auch das Handy mit, das Erik mir für Notfälle gegeben hat. Anschließend schreibe ich noch einen Zettel für Mina Ma mit einer Entschuldigung, die ich mehrfach unterstreiche, und verspreche, ihr eine SMS zu

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