Lost Girl. Im Schatten der Anderen
passiert ist. Eine dunkle Leere in meiner Brust sagt es mir. Fröstelnd rolle ich mich auf meinem Bett zusammen und bedecke das Gesicht mit den Händen. »Amarra?«, flüstere ich durch meine zitternden Finger hindurch. Als könnte sie mir antworten. Sie kann es nicht. Sie wird nie wieder auf eine Frage antworten.
Am Nachmittag kommt Erik zu uns. Mina Ma ist überrascht, weil es keiner seiner üblichen Besuchstage ist. Mich überrascht sein Besuch nicht. Ich weiß genau, warum er kommt. Ausdruckslos sehe ich ihn an, als er mir eröffnet, was ich doch schon die ganze Zeit spüre: dass meine Andere tot ist und ich gehen muss.
Zweiter Teil
1. Abschiede
I ch will nicht gehen, ich sage es immer wieder, aber es nützt nichts. Ich muss. Dazu wurde ich geschaffen.
»Du bist alles, was deine Nenneltern noch haben«, erinnert Erik mich. »Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als ihre Tochter zurückzubekommen. Sie sind unendlich traurig. Deshalb brauchen sie dich.«
»Aber sie wissen doch, dass ich nicht Amarra bin!«
»Schon«, sagt Erik, »aber sie klammern sich an die Hoffnung. Sie wünschen sich einfach, dass du eine perfekte Amarra sein wirst. Die Wahrscheinlichkeit, dass Amarras Seele ihren Tod überlebt hat, ist eins zu tausend, und trotzdem können ihre Eltern an nichts anderes denken. Du bist ihre einzige Chance.« Er sieht mich lange und traurig an. »Du bist viel zu lange Eva gewesen. Jetzt musst du Amarra sein.«
Ich werde also gehen, es führt kein Weg daran vorbei.
Und ich werde meine Vormunde nie wiedersehen.
»Eva«, sagt Erik ernst, »wir müssen noch über etwas anderes reden. Du weißt, dass Echos in Indien illegal sind. Und du weißt auch, dass deine Nenneltern ins Gefängnis kämen, wenn die Polizei von dir erfahren würde.« Ich nicke. »Was du vielleicht nicht weißt, ist, dass in diesem Fall auch du ins Gefängnis kämst. Die Polizei könnte dich dann gleich selbst auslöschen, aber wahrscheinlicher ist, dass die Meister dich zurück nach London holen. Allerdings fürchte ich, dass auch sie dich töten würden.« Erik sieht mich an. »Ein Echo darf auch unter anderen Umständen niemandem außer den Nenneltern verraten, wer es ist. In deinem Fall ist es noch wichtiger. Denn in Indien verstößt du durch deine bloße Existenz gegen das Gesetz.«
Ich nicke.
»Ich will natürlich nicht, dass Neil oder Alisha ins Gefängnis kommen«, fügt er hinzu und lächelt ein wenig traurig. »Aber ich mache mir vor allem um dich Sorgen. Sei vorsichtig.«
»Das bin ich, Erik«, verspreche ich.
»Gut.«
»Bringst du mich nach Bangalore?«
Er schüttelt den Kopf. »Leider nein. Matthew will dich selbst hinbringen. Er kennt Amarras Familie besser.«
Meine Familie. Ab jetzt. Ich weiß nicht, was ich schlimmer finden soll. Die Vorstellung, Teil einer mir völlig fremden Familie zu werden und so zu tun, als wäre es meine Familie, oder die Vorstellung, in Gesellschaft des Meisters, der mich geschaffen hat, um die halbe Welt zu reisen. Die Meister beaufsichtigen und kontrollieren mich schon mein ganzes Leben lang. Wenn ich einen Fehler mache, werden sie mich töten. Wie also kann ich so jemandem gegenübertreten?
»Was ist Matthew für ein Mensch, Erik?«
»Schwer zu sagen. Er ist schwierig, manchmal sogar unerträglich.«
Das klingt nicht gerade beruhigend. »Aber ihr seid Freunde.«
»Wir haben uns an der Universität kennengelernt. Er, Adrian und ich. Elsa hat Geschichte unterrichtet. Seitdem sind Matthew und ich befreundet, manchmal wider besseres Wissen.« Auf Eriks Gesicht erscheint wieder ein Lächeln. »Als die drei damals Meister wurden und die Meisterei übernahmen, wurde ich der erste Vormund. Ich wollte euch lieber beschützen als erschaffen.«
Einen kurzen Moment lang stelle ich mir vor, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn Erik nicht mein Vormund gewesen wäre, und ein kalter Schauer überläuft mich.
»Du hast mich unzählige Male gerettet«, sage ich. Ich muss ihn bald verlassen und habe vielleicht nie wieder die Gelegenheit, ihm zu sagen, was ich wirklich denke. »Du bist das einzig Menschliche an der Meisterei.«
Erik schüttelt den Kopf. »Das stimmt nicht. Die Meister sind nicht deine Feinde, Eva, wenigstens nicht zwangsläufig.«
»Ja, nur solange ich ihre Gesetze befolge.«
Er antwortet nicht, was so viel wie Ja bedeutet. Er blickt zum See hinaus und in seine meerblauen Augen tritt ein erstaunter Ausdruck. »Dreißig Jahre ist das her. Manchmal kommt es mir vor wie gestern.
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