Lost Girl. Im Schatten der Anderen
wiederzusehen? Oder Sean …
Ich schließe die Augen und versuche zu schlafen.
Um drei Uhr am Nachmittag des nächsten Tages ist Ophelia da. Mina Ma eilt geschäftig hin und her, versorgt uns mit Getränken und drängt uns, etwas zu essen. Ich sitze stumm auf meinem Platz. Ich kann weder essen noch trinken. Sean ist noch nicht da, Erik wird demnächst kommen. Er bringt Matthew mit. Ich höre den Sekundenzeiger der Wanduhr. Er tickt so laut, dass es mir jedes Mal durch Mark und Bein geht. Mina Ma sieht mich immer wieder an, als wollte sie mir etwas sagen, wüsste aber nicht wie. Das beunruhigt mich, aber ich kann mich nicht darauf konzentrieren. Meine Aufmerksamkeit wandert ständig von einer Sache zur nächsten. Ophelia hält sich schniefend ein Taschentuch an die Nase und wischt sich Tränen aus den Augen. Ich will sie trösten und ihr sagen, dass sie mir fehlen wird, aber ich kann mich nicht rühren. Ticktack, macht die Uhr erbarmungslos, ticktack.
Wo bleibt Sean?
Nachdem ich zum hundertsten Mal innerhalb einer halben Stunde hoffnungsvoll zur Haustür gesehen habe, hält Mina Ma es nicht mehr aus. »Er kommt nicht«, sagt sie.
»Der Meister kommt nicht?«, frage ich verwirrt und zugleich voller Hoffnung.
Mina Ma ringt mit sich, dann sagt sie hastig: »Nein, Sean. Er kommt nicht.«
Ich sehe sie verständnislos an. »Warum nicht?«
»Er ist krank.«
Das ist eine Lüge. Ophelia bringt es nicht einmal fertig, mich anzusehen. Ich habe keine Ahnung, was ich tun oder sagen soll. Also wende ich mich wieder der Uhr zu. Ich muss die Augen zusammenkneifen, um die Zeit ablesen zu können. Meine Augen tränen. Ich sehe Sean plötzlich vor mir. Er steht unter der schrägen Decke seines Zimmers am Fenster. Ich höre ihn sagen: »Geh nur, Eva. Es ist mir egal.«
Ticktack, ticktack. Dann das Brummen von Eriks Wagen, der vorfährt. Ich stehe auf. Es ist Zeit.
Mina Ma geht zur Tür und macht auf. Als Erster kommt Erik herein. Ich sehe an ihm vorbei in die Augen des Mannes, der mich geschaffen hat.
Er ist ungefähr so groß wie Erik, genauso dünn und etwa im selben Alter. Er erinnert mich an ein gezähmtes Raubtier. Ein scharfer Verstand hinter einem verbindlichen Lächeln und verschlagenen dunkelblauen Augen. Seine Bartstoppeln sind mit Grau durchsetzt, genauso wie seine kurz geschnittenen Haare. Er trägt Hemd und Hose und über dem Hemd eine sonderbare Weste. Sie sieht aus wie ein dünner Panzer und glitzert silbern wie das Kettenhemd eines Ritters aus längst vergangenen Zeiten.
Ich kenne ihn. Ich habe schon von ihm geträumt.
»Ich kenne Sie«, sage ich.
»Du hast ein gutes Gedächtnis, selbst für ein Echo«, sagt er und lächelt ein wölfisches Lächeln. Seine Zähne blitzen. »Bestimmt erinnerst du dich an deine ersten Monate.«
Während Seans Stimme fest wie Ebenholz klingt und die von Mina Ma wie ein kupferner Kessel, hat Matthew Mercer die Stimme eines wilden Tieres. Mir fällt ein Film ein, den Amarra und ich als Kinder geliebt haben. Der Löwe Scar tötet seinen Bruder, um selbst König zu werden. Genau so eine Stimme besitzt Mercer.
»Wie sehr du deiner Mutter ähnelst«, bemerkt er.
Ich zucke zusammen und erwidere trotzig: »Alisha ist nicht meine Mutter.«
Mina Ma sieht mich erschrocken an. Es ist kein guter Anfang, aber ich kann nicht anders. Bei Matthews Anblick bekomme ich eine Gänsehaut. Er macht mir schreckliche Angst.
»Na, na«, sagt er. »Es ist nicht schön, wenn ein Kätzchen die Krallen ausfährt. Du bist offenbar ziemlich leicht reizbar. Aber daran bin wohl ich schuld. Ich habe dich erschaffen.«
Erik seufzt. »Das ist nicht lustig, Matthew. Sie macht eine schwierige Zeit durch.«
»Machen wir das nicht alle?«, erwidert der Meister ironisch. »Haben wir nicht eben erst eine globale Wirtschaftskrise hinter uns gebracht? Wir leben in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Wir alle leiden.«
Ich sehe ihn ungläubig an.
»Gestatten, Sir Matthew«, sagt er mit einer förmlichen Verbeugung. »Stehe zu Diensten. Ich würde das an deiner Stelle allerdings nicht wörtlich nehmen. Ich stehe nur dann zu Diensten, wenn ich gerade Lust dazu habe, und das ist meist nicht der Fall.« Er mustert mich noch einen Augenblick und sein Gesicht nimmt einen sonderbaren Ausdruck an. Er ist auf einmal nicht mehr zu Scherzen aufgelegt, sondern kurz angebunden und gereizt. »Wollen wir aufbrechen? Unser Flug geht in sieben Stunden.«
»Ich hole nur meine Sachen«, murmele ich.
»Jetzt auch noch schlecht
Weitere Kostenlose Bücher